: Keine einzige Tablette
Nächste Woche fällt die endgültige Entscheidung im Streit um den Adolf Winkelmann-Contergan-Film des WDR
Über ein Jahr lang konnte der Pharmakonzern Grünenthal die Ausstrahlung des Adolf Winkelmann- Films erfolgreich verhindern. Seit seiner Fertigstellung liegt der Film deshalb auf Eis. Produziert hat ihn die Kölner Firma Zeitsprung im Auftrag des WDR. Im letzten Monat wurde vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) Hamburg dreieinhalb Stunden lang verhandelt, ob die fiktionalen Abweichungen von den historischen Fakten im Film so schwerwiegend sind, dass sie eine „gröbliche Entstellungen“ darstellen. Das ist die Hürde, die der Bundesgerichtshof (BGH) gesetzt hat. Die Vorsitzende Richterin am OLG hat in Hamburg festgestellt, dass der Film im Vergleich zur Drehbuchfassung „weitgehend entschärft“ sei. Das Drehbuch war in den Vorinstanzen immer als Grundlage zur Entscheidung benutzt worden. Insofern sieht man sich bei Zeitsprung in einer neuen Position. Die Vorsitzende Richterin arbeitet auf einen Vergleich hin und will ihre endgültige Entscheidung am 10. April verkünden. PEL
Historische Filme erzählen immer mehr über die Gegenwart, in der sie entstehen, als über die Zeit, in der sie sich verorten. „Eine einzige Tablette“ heißt der Zweiteiler, den Adolf Winkelmann im Auftrag des WDR und der Kölner Produktionsfirma Zeitsprung im letzten Jahr gedreht hat. Die einzige Tablette, die eine junge Frau (gespielt von Katharina Wackernagel) einnimmt, stammte von der Firma Grünenthal und hieß Contergan. Ende der 50er Jahre wurde Contergan rezeptfrei als Schlafmittel gerade deswegen angepriesen, weil es angeblich überhaupt keine Nebenwirkungen hätte und unbedenklich auch von Schwangeren eingenommen werden könnte. Ein fataler Irrtum: Tausende Neugeborene starben oder wurden mit Missbildungen der Gliedmaßen geboren, nachdem die Mütter Contergan in der Schwangerschaft eingenommen hatten. Die deutsche Öffentlichkeit setzte sich erstmals im großen Stil mit behinderten Menschen auseinander.
Verwunderlich ist es, dass vierzig Jahre nach dem größten Medikamenten- Skandal überhaupt erst jemand auf die Idee kam, den Stoff zu fiktionalisieren: Als Zweiteiler für die ARD um viertel nach acht. Doch sowohl die Firma Grünenthal, die das Schlafmittel 1957 auf den Markt brachte, als auch der Opferanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen wehrten sich gerichtlich gegen Verletzung ihrer Unternehmens- bzw. Persönlichkeitsrechte und klagten. Eine gut erzählte Geschichte, die die Zuschauer auf der Gefühlsebene berührt, wirkt nachhaltiger als jede gut recherchierte Reportage, die um Mitternacht auf Arte versendet wird. Man verbeißt sich also in juristischen Details aus Furcht vor einer rührseligen Story im Abendprogramm, in der man am Ende als profitgierige Chemiefirma dasteht. Emotionalisierendes Potential bietet der Contergan-Skandal allemal. Nun mag Grünenthal in der Lage sein diesen Prozess noch jahrelang von einer Instanz in die nächste zu treiben. Von Medienwirkung scheint das Unternehmen – trotz hoch bezahlter Berater – wenig zu verstehen. Früher oder später wird der Film gesendet werden, und bis dahin hat er durch den ganzen Rummel um den Prozess bereits mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregt als jede PR-Maschinerie je in Gang setzen könnte. Diese Debatte um Kunstfreiheit, um Pharmakonzerne und Rechte der Opfer von Contergan könnte sehr spannend sein, doch leider läuft sie schief. Da versucht die Firma Grünenthal die den Prozess um Schadensersatz für die Opfer mit immer neuen Sachverständigen bis 1970 in die Länge gezogen hatte, sich nun selbst irgendwie als Opfer zu stilisieren, was zum Glück misslingt. Niemand konnte damals absehen, wie die Spätfolgen von Contergan wirken würden, sodass die 100 Millionen DM, die nach jahrelangem Tauziehen an die Geschädigten ausgezahlt wurden, schon lange aufgebraucht sind. Makabererweise hatte niemand damit gerechnet, dass einige der damals geborenen Kinder im Jahre 2007 noch leben würden.
Alle haben sich zu Wort gemeldet: Adolf Winkelmann, über dessen Film alle reden, ohne ihn gesehen zu haben, die Produktionsfirma, die zu recht beklagt, dass ein historischer Spielfilm vor dem Landgericht Hamburg als Dokumentarfilm behandelt wurde, Grünenthal und Schulte-Hillen, die auf Grundlage des Drehbuchs des längst fertig abgedrehten Films argumentierten, in Wahrheit sei alles anders gewesen (zumindest in 15 Szenen). Nur die Opfer hört man nicht. Ob der Film ihnen eine Stimme verleiht, darüber kann die Öffentlichkeit nur weiter spekulieren: In der Debatte scheint diese Frage nicht zu interessieren. Das Landgericht Hamburg hatte aufgrund des Drehbuchs entschieden, obwohl der Film zu dem Zeitpunkt schon geschnitten vorlag. Winkelmann pflegt seine Filme am Schneidetisch fertig zu stellen. Abweichungen von Drehbuch und Endfassung sind ohnehin in der Praxis normal. Die vorsitzende Richterin des Oberlandesgerichts Hamburg hat die Entscheidung nun in der Berufungsverhandlung vertagt, dennoch machte sie klar, dass sie aufgrund des fertigen Films entscheiden werde. Wie schön, wenn uns das allen vergönnt wäre. BETTINA SCHIEL