: Ein Frühlingssturm, der alle erfasst
Ein handfester Skandal hat Nordrhein-Westfalens Politiker aus dem langen Winterschlaf geweckt. Nachdem Gelsenkirchener FH-Professoren wegen Betrugs verhaftet wurden, gerät die Aufklärung des Falls zum Kampf zwischen Regierung und Opposition
VON KLAUS JANSEN UND MARTIN TEIGELER
Bevor Wolfgang Clement am vergangenen Wochenende zu einer Dienstreise in die Schweiz aufbrechen konnte, hatte er noch etwas Wichtiges zu erledigen. Eine Erklärung gab der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident ab, an Eides statt. Es ging um die Frau, die für die SPD einmal seinen früheren Job in der Düsseldorfer Staatskanzlei übernehmen soll – und um das Gelsenkirchener Inkubator-Zentrum, das die Fantasie der Landespolitiker derzeit wie kein anderes Thema anregt. „Nach meinem Kenntnisstand war Hannelore Kraft nicht an den Gründungsplänen beteiligt“, erklärte Clement.
Spätestens in diesem Moment war allen klar, dass es ernst werden würde.
Das Projekt Nr. 04-067, in dem ein Importunternehmen für türkisches Trockenobst aufgebaut werden sollte, wurde nach fast zweijähriger Beratungsphase und Kosten in Höhe von rund 94.500 Euro eingestellt, da das Obst nicht den EU-Normen entsprach. Die Projektlage war unvollständig, bestand aus wenigen Blättern und enthielt im wesentlichen Notizen sowie Wegbeschreibungen.*
Trockenobst. Eigentlich ist es nur eine kleine, schmutzige Affäre. Professoren der Fachhochschule Gelsenkirchen haben offenbar Scheinfirmen gegründet, Scheinrechnungen geschrieben, sich Beraterhonorare zugeschanzt. 35 Millionen Euro Schaden sind entstanden. Keine große Summe angesichts eines Landeshaushalts von jährlich knapp 50 Milliarden Euro. Und doch sind die Landespolitiker aufgeschreckt, seit der Landesrechnungshof den Skandal auf detailreichen 30 Seiten aufgeschrieben hat und die Bochumer Staatsanwaltschaft ermittelt. „Noch nie hat es einen Bericht von solcher Tragweite gegeben“, sagt Forschungsminister Andreas Pinkwart. Das Ressort des Freidemokraten verantwortet die Aufklärung der Affäre – und dem Chef scheint das nicht einmal unangenehm zu sein. Ein Frühlingssturm ist ausgebrochen.
Zuerst schickte die schwarz-gelbe Koalition Manfred Kuhmichel vor. Der Essener Abgeordnete ist Fraktionsvize im Landtag, ein Posten, von dem man Testballons steigen lassen kann. „Was wusste Frau Kraft?“ fragte der Christdemokrat in einer Presseerklärung. Die Antwort gibt das Regierungslager hinter vorgehaltener Hand: Kraft, von 2002 bis 2005 NRW-Wissenschaftsministerin und heute SPD-Oppositionsführerin, stecke tief drin im FH-Sumpf. Sie habe Fördermittel ungeprüft vergeben, sie habe vor den kriminellen Machenschaften in Gelsenkirchen die Augen verschlossen. „Wir werden wühlen. Wir werden nicht zurückstecken“, heißt es aus Koalitionskreisen. Allein dass sich Clement einschalte, sei eine „scharfe Nummer“ und zeuge von Nervosität. Schließlich habe sich der Ex-Landesvater über Jahre aus der Düsseldorfer Politik herausgehalten.
Das Parlament hat sich der Affäre bereits angenommen. Routiniert. Ohne Hysterie. Bei der Sitzung des Haushaltskontrollausschusses in der vergangenen Woche hörten sich die Abgeordneten – meist ältere, männliche Haushälter aus den hinteren Reihen des Landtags – die Prüfberichte der Ministerien und des Landesrechungshofs an. Der kleine Sitzungssaal war überfüllt. Nach der Osterpause wollen die Abgeordneten weiter beraten.
Nur fünf Prozent der Kooperationspartner erhielten 94 Prozent aller Beratungsaufträge. Sämtliche Beratungsaufträge wurden ohne Vergabeverfahren erteilt. Das Inkubator-Zentrum konnte weder Anforderungsprofile noch Qualifikationsnachweise oder Referenzen der Berater und deren Mitarbeiter vorlegen.
Im Jahr 2000 wurde das Inkubator-Zentrum gegründet. Es war eine Gründerzeit im Ruhrgebiet – und es war die Zeit der SPD. In Berlin regierte Gerhard Schröder, in Düsseldorf Wolfgang Clement. Der 11. September 2001 und der Zusammenbruch der New Economy war noch fern. Existenzgründer und Unternehmensberater wurden aus den öffentlichen Kassen üppig gefördert – vor allem, wenn sie einen Professorentitel hatten wie die Verdächtigen im Gelsenkirchener Skandal. Das Internet, die Biotechnik und Gesundheitswirtschaft sollten den Strukturwandel bringen. „Ich kenne viele, die damals eine Briefkastenfirma im Ruhrgebiet gegründet haben, um die Fördergelder abzuziehen“, sagt ein IT-Unternehmer über jene Zeit. Geld war genug da und politischer Optimismus der damals noch unangefochten regierenden SPD auch. „Sowohl das Land als auch die Stadt und die FH haben das Projekt hochgehandelt“, sagt der damalige Arbeitsminister Harald Schartau rückblickend über das Inkubator-Zentrum. „Dass ausgerechnet dort Geld verschwunden ist, ist eine Katastrophe.“
Dezember 2000: Gründung des „Inkubator-Zentrums Emscher Lippe GmbH“. Hauptgesellschafter ist die Fachhochschule Gelsenkirchen. Geschäftszweck des Unternehmens ist die Beratung von Existenzgründern. Juli 2001: Das Wirtschaftsministerium bewilligt 120.000 Mark für eine Machbarkeitsstudie. In den Folgejahren erhält die GmbH von der FH Gelsenkirchen und dem Wirtschaftsministerium Projektfördermittel in Höhe von mehr als 12 Millionen Euro. Mai 2002: Ein Beirat mit Vertretern des NRW-Wissenschafts-, Wirtschafts- und Finanzministeriums wird eingerichtet. Dezember 2003: Der damalige SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück weiht das Verwaltungsgebäude beim Inkubator-Zentrum Emscher-Lippe ein. Auch Politiker anderer Parteien besuchen das Zentrum und würdigen es als Beispiel für den gelungenen Strukturwandel im Ruhrgebiet. März 2007: Das Netzwerk rund um das Inkubator-Zentrum fliegt auf. Wegen des Verdachts des banden- und gewerbsmäßigen Subventionsbetrugs werden drei Professoren der Fachhochschule Gelsenkirchen verhaftet. Der Rektor wird beurlaubt, die Landespolitiker werfen sich gegenseitig Versagen vor.
Nach Auffassung des Landesrechnungshofs ist es versäumt worden, die Selbstfinanzierungsfähigkeit des Inkubator-Zentrums betriebswirtschaftlich und zeitnah zu prüfen.
Was bedeutet eine zeitnahe Prüfung? Diese Frage wird darüber entscheiden, wie die politische Verantwortung verteilt wird. Die Studenten an der Gelsenkirchener Fachhochschule erzählen, dass die Geschäfte ihrer Professoren schon seit Jahren – also auch schon zur Zeit von Wissenschaftsministerin Hannelore Kraft – ein offenes Geheimnis waren. Schwarz auf weiß existieren erste Hinweise jedoch erst seit Februar 2005, also kurz vor der Abwahl von Rot-Grün. Damals prüfte die NRW.Bank im Auftrag des Wirtschaftsministeriums, wie gut wiederum die zuständigen Prüfer der Bezirksregierung Münster gearbeitet hatten. „Es lagen keine Vergabeunterlagen vor“, monierten die Gutachter in ihrem Bericht.
In Düsseldorf störte dass offenbar niemanden. Zumal die NRW.Bank im Mai desselben Jahres einen zweiten Bericht nachlegte, der sich in Nebensächlichkeiten erging. „30 Hailo Trittleitern“ seien am Inkubator für 1.770 Euro angeschafft worden, weil die Schränke zu hoch für die Mitarbeiter seien. Und für einen Wasserkocher (Kosten: 9,99 Euro) sei ein Angestellter nach Dülmen gefahren. Die entstandenen Reisekosten von 7,20 Euro seien unverhältnismäßig hoch gewiesen, schrieben die Prüfer.
Von den fehlenden Millionen war in den Berichten der NRW.Bank keine Rede. Die spürte erst der Landesrechnungshof auf. „Alles nach unserer Regierungszeit“, erklärt die NRW-SPD. Aus ihrer Sicht ist entscheidend, wann der Prüfbericht Forschungsminister Pinkwart und Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) vorlag. Zu spät habe die Landesregierung die Öffentlichkeit informiert, finden die Sozialdemokraten. Zumindest im Hause Thoben hat man bereits eine Entschuldigung parat: Mit Klaus Bösche wurde der zuständige Abteilungsleiter versetzt; passenderweise hatte der Ministerialdirigent vor dem Regierungswechsel als Referatsleiter politische Planung für SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück gearbeitet. Bösche darf über seine Abberufung nicht reden. Offiziell ist er seit gestern im Urlaub.
Zwischen dem Inkubator-Zentrum und dem damaligen Geschäftsführer wurde ab 10. Mai 2002 ein unbefristeter Anstellungsvertrag geschlossen. Hierin ist vereinbart, dass der Geschäftsführer teilzeitbeschäftigt ist, keine Anwesenheitspflicht hat, ab dem 63. Lebensjahr Pensionsansprüche hat, Leistungsprämien erhält, Nebentätigkeiten ohne weitere Rücksprache ausüben darf, einen Dienstwagen erhält und über das Landesreisekostengesetz hinausgehende Ansprüche hat.
Aktueller Geschäftsführer des Inkubator-Zentrums ist Dietrich K. Seeger. Der Unternehmensberater aus dem Münsterland soll seiner eigenen Firma Beraterhonorare des Inkubators ausgezahlt haben, nach taz-Informationen wird er in den kommenden Tagen seinen Job verlieren. Offiziell befindet auch er sich derzeit in Urlaub.
Wolfgang Clement (heute Berater und Privatier, bis 2002 NRW-Ministerpräsident und Förderer der FH Gelsenkirchen).
Hannelore Kraft (heute SPD-Landeschefin, bis 2005 als NRW-Forschungsministerin politisch mitverantwortlich für die Förderung der FH-Firmen).
Harald Schartau (heute Hinterbänkler, bis 2005 Wirtschaftsminister, Förderer des Inkubators).
Jürgen Rüttgers (CDU-Ministerpräsident, besuchte noch im August 2006 eine der Firmen des angeblichen Kronzeugen der Staatsanwaltschaft, Roland Schermer, im Ruhrgebiet. Damals wurde er mit den Worten zitiert: „Wenn es uns gelingt, die vorhandenen Potenziale in der Region zusammenzuführen, werden wir bald viele Schermers erleben.“)
Jörg Twenhöven (CDU-Regierungspräsident Münster, Aufsichtsratsmitglied des Inkubators und Freund des beurlaubten FH-Rektors Peter Schulte).
Oliver Wittke (heute CDU-Landesbauminister, saß während seiner Zeit als Gelsenkirchener Oberbürgermeister im Aufsichtsrat des Inkubator-Zentrums).
Seeger hat eng mit Peter Schulte zusammengearbeitet, dem längst beurlaubten Rektor der Fachhochschule Gelsenkirchen. Der wiederum ist ein guter Freund von Münsters Regierungspräsident Jörg Twenhöven, dessen Prüfer den Inkubator über Jahre unbehelligt ließen. Zugleich war Schulte Wahlkampfunterstützer von Gelsenkirchens früherem CDU-Bürgermeister und Inkubator-Aufsichtsrat Oliver Wittke, der jetzt NRW-Bau- und Verkehrsminister ist. „Schulte ist die Spinne im schwarzen Netz“, sagt der grüne Landtagsabgeordnete Rüdiger Sagel. Die SPD verweist in Hintergrundgesprächen auf eine Connection zu Christa Thoben, die in ihrer Zeit als Chefin der Industrie- und Handelskammer Münster eng mit den anderen CDU-Protagonisten der Region zusammenarbeitete.
Einen positiven Einfluss des Beirats, in dem auch Vertreter des Wissenschafts-, Wirtschafts-, und Finanzministeriums vertreten waren, auf das Projekt konnte der Landesrechnungshof nicht feststellen.
Wissenschafts-, Wirtschafts- und Finanzministerium. Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Bezirksregierung und NRW.Bank. Oliver Wittke und Hannelore Kraft. Es sind viele, die den Fortgang der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft fürchten müssen. Jürgen Rüttgers zählt sich offenbar nicht dazu. Bei einer der vergangenen Kabinettsrunden soll der Ministerpräsident einen Wutanfall bekommen haben, weil seine Partei aus dem FH-Skandal zu wenig politisches Kapital schlage. Der Regierungschef sieht die Chance, seiner Rivalin Kraft die ersten ernsthaften Kratzer beizubringen.
„Wir werden weitermachen. Es gibt keine Rücksicht“, heißt es aus dem schwarz-gelben Regierungslager. Der Frühlingssturm soll weiter wehen. Rüttgers Parteifreunde müssen aufpassen, nicht mitgerissen zu werden.
*Zitate aus dem Bericht des Landesrechnungshofs vom 19. März 2007