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Archiv-Artikel

Das Inzestkind

Das Amt: „Da Sie nicht Zeuge des Missbrauchs waren, wird Ihre Aussage nicht berücksichtigt“

AUS DRESDEN BARBARA BOLLWAHN UND SVEN DÖRING/VISUM (FOTOS)

Ein einziger Satz kann das Leben verändern. Er kann einen Menschen so verunsichern, dass er meint, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Im Leben von Lutz Rößler gibt es einen solchen Satz. Seine Mutter hat ihn gesagt, nachdem er sich mit ihrem Mann gestritten und bei ihr beschwert hatte, dass sie so wenig Verständnis für ihn aufbringe. Er wünsche sich endlich einen Vater, mit dem er vernünftig reden könne. Und da brach es aus der Mutter heraus. „Dann geh doch zu Onkel Hartmut, er ist für dein Entstehen verantwortlich.“

Lutz Rößler war 29 Jahre alt, als er erfuhr, dass weder der große Unbekannte sein Erzeuger ist noch sein erster Stiefvater oder der zweite. Sondern Onkel Hartmut. Der Bruder seiner Mutter.

Lutz Rößler ist ein Inzestkind. Seine Mutter war 17, ihr Bruder 19 Jahre alt, als er am 28. September 1961 in einer Kleinstadt bei Dresden geboren wurde. Sehen konnte er seinen Vater bis heute nicht, denn Lutz Rößler wurde mit einem grünen Star geboren. Er ist seit seiner Kindheit blind.

Inzest ist ein Tabu. Nur hinter vorgehaltener Hand wurde jahrzehntelang über die „Blutschande“ getuschelt, die wie ein Schatten auf den betroffenen Familien lag. Ohne dass die Öffentlichkeit sich dafür interessierte. Das hat sich geändert, denn der Beischlaf unter Verwandten, der nach Paragraf 173 des Strafgesetzbuches mit bis zu drei Jahren Haft bestraft wird, beschäftigt das Bundesverfassungsgericht. Der Grund ist nicht das Schicksal von Inzestkindern wie Lutz Rößler. Sondern die Klage eines Geschwisterpaares aus Zwenkau bei Leipzig. Ein 30-jähriger Mann und seine 22-jährige Schwester wollen den Inzestparagrafen mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem obersten deutschen Gericht kippen.

Die beiden Geschwister sind getrennt voneinander aufgewachsen und haben sich vor sieben Jahren kennen gelernt, als der junge Mann seine leibliche Mutter ausfindig gemacht hatte. Kurze Zeit später stirbt die Mutter. Die Geschwister gehen eine Beziehung ein und zeugen vier Kinder, die jetzt zwischen einem und fünf Jahre alt sind. Die drei älteren Kinder leben in Pflegefamilien. Zwei von ihnen waren Frühgeburten und sind nicht gesund zur Welt gekommen.

Wegen Beischlafs mit seiner Schwester wird der Bruder in einem ersten Inzestverfahren zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Seine damals noch minderjährige Schwester bleibt straffrei. Nach der Geburt des zweiten Kindes wird er zu elf Monaten Haft verurteilt, die er verbüßt. Im Februar dieses Jahres bekommt er schließlich eine Ladung zum Antritt einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe, zu der er bereits im November 2005 verurteilt worden war. Mit der Verfassungsbeschwerde hat er eine Haftverschonung erwirkt und bleibt so lange frei, bis Karlsruhe über die Klage entschieden hat, was noch in diesem Jahr sein soll. „Das ist ein Verfahren, in dem es eine fundamentale Diskussion in der Republik geben wird“, ist Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, überzeugt.

Für die einen ist das seit dem Mittelalter in Deutschland bestehende Inzestverbot ein historisches Relikt, eine Verletzung der Grundrechte. Andere warnen davor, den strafbaren Beischlaf von Geschwistern als überkommene Moralvorstellung abzutun und führen gesundheitliche und psychische Folgen für die Kinder aus solchen Beziehungen an. „Geschwister haben untereinander im Schnitt 50 Prozent gemeinsame Erbanlagen“, sagt der Direktor des Instituts für Humangenetik an der Berliner Charité, Karl Sperling. „Das erhöht das Risiko von Erbkrankheiten deutlich.“

Lutz Rößler lebt mit seiner Frau Kerstin und den Wellensittichen Bobby und Sunny im achten Stock eines Neubaus in Dresden-Prohlis. Vorsichtig läuft der 46-Jährige vom Sofa zum Esstisch neben der Durchreiche zur Küche, in der seine Frau das Mittagessen macht. Er setzt sich, kerzengerade, die Hände vor sich auf dem Tisch, die Finger akkurat ausgestreckt. Seine Augen sind meist geschlossen. Gehen die Lider nach oben, geben sie den Blick frei auf weiße Augäpfel. Er spricht mit lauter Stimme und wählt seine Worte mit Bedacht. Er kann nicht verstehen, dass Kinder aus einer inzestuösen Beziehung in der aktuellen Diskussion keine Rolle spielen. Auch wenn der Beischlaf im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt ist. „Das macht mich wütend“, sagt Lutz Rößler. „Solche Kinder haben keine guten Perspektiven. Die Streichung des Inzestparagrafen würde außerdem jeder Form von Gewalt Tür und Tor öffnen.“

Lutz Rößler ist 1,81 Meter groß. Seine Frau ist kleinwüchsig und misst trotz ihrer 46 Jahre nur 1,39 Meter. Schnell läuft sie zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, serviert Makkaroni mit Jagdwurst und Tomatensoße und achtet darauf, dass alles am gewohnten Platz steht. Sie spricht, wie ihr die Gedanken durch den Kopf schießen. „Wird der Paragraf gestrichen, dann wird das noch zum Volkssport!“

Die beiden haben sich vor 17 Jahren in einem Blindenzentrum kennengelernt. Seitdem ist sie das Licht in seinem Leben. Zusammen kämpfen sie darum, dass er etwas von dem verlorenen Halt wiederbekommt. Unterstützung finden sie in dem Verein „Melina e.V.“ in Stuttgart, der sich seit zehn Jahren um Kinder kümmert, die durch Inzest oder Vergewaltigung entstanden sind. Weil der Weg von Dresden nach Stuttgart weit ist, haben sie einen eigenen Verein ins Leben gerufen, die „Initiative Lebensweg“. Bald wollen sie ein Buch herausgeben. Der Titel: „Ungeliebtes Inzestkind“.

Lutz Rößler will, dass seine Mutter und ihr Bruder zu dem stehen, was sie getan haben. Es ist ein fast aussichtslos erscheinendes Unterfangen. Denn im Unterschied zu dem Geschwisterpaar aus Zwenkau, deren Beischlaf im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt, liegen die Umstände seiner Zeugung anders. Lutz Rößler ist davon überzeugt, dass der Beischlaf zwischen seinen Eltern erzwungen war. Das wäre auch nach dem Strafgesetzbuch der DDR strafbar gewesen, ist aber längst verjährt. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel von 2002 gelten Menschen, die mit Behinderungen aus einer inzestuösen Beziehung hervorgegangen sind, als Opfer und können eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz bekommen. Aber nur, wenn ihre Zeugung die Folge einer Gewalttat war.

Diesen Nachweis muss Lutz Rößler selbst erbringen. Das Verhältnis zu seiner Mutter ist seit dem Streit am 18. Dezember 1990 zerrüttet. Sie kommunizieren nur über Anwälte. In einem von ihrer Anwältin verfassten Schreiben beklagte sich die Mutter 1999 über angeblich rufschädigende Äußerungen ihres Sohnes. Aber sie diktierte ihrer Anwältin auch etwas, was bestätigt, wovon der Sohn ohnehin überzeugt ist. „Zudem wurde der Beischlaf erzwungen.“ Damit hatte Lutz Rößler schwarz auf weiß eine Aussage seiner Mutter, die ihn ermutigte, weiterzumachen.

Er strebte eine Vaterschaftsklage an. Vor zwei Jahren erkannte sein Onkel, der zuvor Unterhaltsleistungen für ihn gezahlt hatte, die Vaterschaft an. Seitdem hat Lutz Rößler zwar leibliche Eltern. Doch mit den Konsequenzen aus seinem Zustandekommen steht der blinde Mann, der von einer Erwerbsunfähigkeitsrente von 800 Euro und 333 Euro Blindengeld lebt, allein da.

Die Erfahrung von Lutz Rößler: „Kinder aus solchen Beziehungen haben keine guten Perspektiven“

Beim Amt für Familie und Soziales in Dresden stellte er einen Antrag auf Beschädigtenversorgung. Der wurde im Sommer 2006 abgelehnt. Seine Mutter hatte sich bei einer Befragung durch das Versorgungsamt auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Gegenüber einer Fernsehredakteurin, die für den Sender Pro 7 an einem Beitrag über Inzestkinder mitgewirkt hat, hatte sie jedoch erklärt, dass „sie sich selbst als Opfer sieht, weil sie vergewaltigt wurde“. Ihr Bruder hatte beim Versorgungsamt angegeben, dass es nach einer Tanzveranstaltung zu einem „einmaligen Sexualkontakt“ mit seiner Schwester gekommen sei, er sich aber „alkoholbedingt“ an keine Einzelheiten erinnern könne.

Für das Versorgungsamt stellt die von der Mutter gegenüber anderen Personen gemachte Äußerung eines erzwungenen Beischlafs keinen Beweis dar. Zumal der Bruder das bestreitet. Die Mutter hätte nichts zu verlieren, wenn sie sich dem Amt gegenüber äußern würde. Auf den Bruder hingegen könnten Zahlungsforderungen zukommen, würde er einen erzwungenen Beischlaf einräumen und Lutz Rößler eine Entschädigung bekommen.

Das Dresdner Amt für Familie und Soziales wirft dem durch Inzest entstandenen Lutz Rößler vielmehr seine eigene Geburt vor: „Ihre Angaben zum Tatvorwurf, dass Ihre Mutter von Ihrem Vater missbraucht worden wäre, konnten … keine Berücksichtigung finden, da Sie selbst nicht Zeuge des vermeintlichen Missbrauchs gewesen sind und Ihre Kenntnisse über das damalige Geschehen nur primär durch Ihre Mutter erhalten haben.“ Seit dem vergangenen Sommer befindet sich Lutz Rößler im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid.

Der Anwalt des Geschwisterpaares aus Zwenkau indes macht sich für die Abschaffung des Inzestparagrafen stark. Rechtsanwalt Endrik Wilhelm geht es allein um juristische Fragen: „Wird ein Straftatbestand gebrochen, der des Inzestes, der bestraft werden muss, oder darf der Staat nur strafen, wenn es um ein dahinter stehendes, zu schützendes Gut geht, das mehr sein muss als nur eine woher auch immer stammende moralische Kategorie, die der freien Gestaltung des Familienlebens?“ Er pocht auf das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung. Für ihn ist „nicht relevant“, welche Behinderungen zwei der vier Kinder des Geschwisterpaares haben, „zumal es sich um Frühgeburten handelte“. Wenn Geschwister keine Kinder miteinander haben dürfen, dann müssten auch nicht verwandte Partner kinderlos bleiben, wenn einer eine Erbkrankheit hat.

Manchmal hätte Lutz Rößler Lust, seiner Frau einen Brief an Endrik Wilhelm zu diktieren. Was er schreiben würde? „Ich möchte mich Ihnen gerne als zu pflegendes Inzestopfer anbieten“, sagt er sarkastisch. Seine Stimme wird übertönt von dem aufgeregten Piepsen der Wellensittiche, die in ihrem Käfig ein mächtiges Spektakel aufführen.

Ein Satz könnte für Lutz Rößler das Zünglein an der Waage sein. Wenn seine Mutter dem Versorgungsamt gegenüber das erklären würde, was sie bereits zu anderen gesagt hat: dass der Beischlaf erzwungen war. Würde das Amt dieser Aussage mehr Glauben schenken als der Aussage des Bruders, der sich angeblich nicht erinnern kann, dann wäre Lutz Rößler am Ziel. Dann könnte ihm ein einziger Satz etwas von dem Halt wiedergeben, den er durch einen anderen Satz seiner Mutter verloren hat.