: Spekulationen in Marrakesch
MAROKKO Ein Bekennerschreiben zum Attentat liegt nicht vor. Demokratiebewegung fürchtet Repressalien
■ Die Wirtschaft Marokkos bietet wenig Chancen. Fünf Millionen Marokkaner leben von weniger als einem Euro pro Tag. Haupteinnahmequellen des Landes sind neben Tourismus und Landwirtschaft die Überweisungen der Immigranten in Europa und in Übersee. 6,4 Milliarden Dollar schickte sie im Jahr 2010 nach Hause. Die 2,5 Millionen Auslandsmarokkaner sind nach dem Tourismus die zweite Devisenquelle des Königreichs.
■ Was im Lande lukrativ ist, gehört dem Clan rund um den Königspalast. „Die königliche Familie kauft ganze Bereiche der marokkanischen Wirtschaft auf“, sagt der Journalist Ali Amar. Die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente der US-Botschaft in Rabat bestätigen dies. Ausländische Investoren können nur dann lukrative Geschäfte tätigen, wenn sie kooperieren. (rw)
AUS MADRID REINER WANDLER
Der Schrecken auslösende Name steht im Raum. „Alle Spuren werden verfolgt, die von al-Qaida inbegriffen“, bekräftigte der marokkanische Regierungssprecher Khalid Naciri am Freitag, einen Tag, nachdem eine Bombe das Caféhaus Argana auf dem Platz Jemaa Lafna in Marrakesch zerstört hat. Die Behörden ermitteln damit dort, wo viele Marokkaner die Täter vermuten.
Der Sprengsatz hatte das bei Touristen beliebte Lokal am Donnerstag gegen 11.50 Uhr schwer beschädigt. 14 Menschen kamen direkt bei dem Anschlag ums Leben. In der Nacht darauf verstarben zwei der 23 Verletzten – die Todeszahl liegt damit bei 16. Unter den Todesopfern sind mindestens 11 Ausländer, 6 davon sollen die französische Staatsangehörigkeit haben. „Als Tourist in ein Land zu reisen und tot zurückzukehren, ist eine schreckliche Sache“, sagte Finanzminister Salaheddine Mezouar am Freitag und kündigte an, „sehr hart daran zu arbeiten, dass dies keine Folgen für den Tourismus in Marrakesch hat“.
Marokkos schwächelnde Wirtschaft ist in Zeiten der Krise mehr auf die Einnahmen aus dem Geschäft mit den Urlaubern angewiesen als je zuvor. Das nordafrikanische Reich des Alawitenkönigs Mohamed VI. galt bisher als weitgehend sicher. Zwar verhaftete die Polizei in den vergangenen Jahren immer wieder mutmaßliche Terroristen, die dem Umfeld der nordafrikanischen „al-Qaida im islamischen Maghreb“ zugerechnet wurden. Doch ist es seit 2003 zu keinen nennenswerten Gewaltakten mehr gekommen. Damals sprengten sich zwölf Selbstmordattentäter in der Wirtschaftsmetropole Casablanca in mehreren westlichen und jüdischen Einrichtungen in die Luft und rissen 33 Menschen mit in den Tod. Zum Attentat von dieser Woche hat sich bisher niemand bekannt.
Die Bombe explodierte nur wenige Tage, nachdem zum dritten Mal Zehntausende im ganzen Land für mehr Demokratie und gegen die Korruption auf die Straße gingen. König Mohamed VI. kündigte unter dem Druck der Straße eine Verfassungsreform an und hob Renten, Beamtengehälter und Mindestlöhne an. In einer Teilamnestie wurden 96 Inhaftierte freigelassen, viele von ihnen radikale Islamisten. In Marrakesch macht das Gerücht die Runde, einer der Amnestierten habe sich im Café Argana in die Luft gesprengt. Sollte dies der Fall sein, wäre das ein schwerer Schlag für König und Demokratiebewegung.
Der nächste Protestmarsch, zu dem die meist aus jungen Menschen bestehende „Bewegung 20. Februar“ mobilisiert, ist für den 1. Mai angesetzt. Die Organisatoren hoffen, dass die Regierung den Anschlag nicht nutzt, um die Protestmärsche zu unterdrücken. „Jetzt hat die Regierung freie Hand, um im Namen des ewigen Kampfs gegen den Terrorismus, die versprochene Öffnung zu minimieren oder zu verweigern. Dank dieser kriminellen Handlung wird die alawitische Autokratie Zeit gewinnen. Zeit, um uns mundtot zu machen“, warnt Ali Lmrabet, Chefredakteur der Internetzeitung Demainonline.
Manche gehen noch einen Schritt weiter. Nur wenige Stunden nach dem Anschlag in Marrakesch eroberten Verschwörungstheorien das Internet. „Der König hat die Bombe bestellt, um uns niederzumachen“, heißt eine der Twitter-Botschaften. Der im spanischen Exil lebende ehemalige Leutnant der marokkanischen Armee, Abdelilah Issou, sucht die Schuldigen in einer Videobotschaft bei YouTube in Geheimdienstkreisen. Das Ziel sei es, „den Ausnahmezustand auszurufen“. Er habe Kenntnis davon, dass „ein Mann gesehen worden sein soll, der das Café Argana verließ, nachdem er dort einen Koffer abgestellt hat“, erklärt Issou, der in Marokko beschuldigt wird, eine Oppositionsbewegung innerhalb der Armee aufgebaut zu haben. Ein marokkanischer Journalist bestätigte dies gegenüber al-Dschasira.
Der Islamismus- und Terrorismusspezialist an der Universität Casablanca, Mohamed Tozi, glaubt nicht an ein Komplott. „Die Art des Anschlags und das Ziel deuten auf die radikalen Salafisten hin“, sagt er am Telefon. Al-Qaida habe kein Interesse an einer Demokratisierung der arabischen Länder. Zudem habe das Terrornetzwerk durch die Demonstrationen überall in der arabischen Welt an Einfluss verloren. „Mit diesem Anschlag versuchen sie sich zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu bringen.“