: Ein gemeines Gedicht
Eine ausgetauschte Silbe in einem Barocksonett sorgt für Aufregung beim NRW-Zentralabitur: Das sei der „fachwissenschaftlich neuste Stand“, behauptet ein Sprecher des Schulministeriums
VON PASCAL BEUCKER
Kampfeslustig hatte sich Andrej Priboschek ins literaturwissenschaftliche Getümmel gestürzt. Aber wie hätte der Sprecher des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Schule und Weiterbildung auch anders auf diese Provokation reagieren sollen? Sein Blutdruck muss jedenfalls gewaltig in die Höhe geschossen sein, als ihm jene ungehörige Glosse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter die Augen kam. Da sei eine „prompte Richtigstellung“ fällig, befand er.
Mit „Durchgefallen“ hatte die FAZ ihren in der vergangenen Woche erschienenen Text überschrieben, in dem sie auf einen Fehler in einer Textvorlage für das gerade frisch eingeführte NRW-Zentralabitur aufmerksam machte. Es ist ein Streit um eine Silbe: In dem Deutsch-Leistungskurslern zur Interpretation angebotenen Sonett „Vergänglichkeit der Schönheit“ des Breslauer Barocklyrikers Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau sei im achten Vers sinnentstellend ein „gemeines Band“ durch „gemeinsam Band“ ausgetauscht worden, hatte die FAZ behauptet. Eine gemeine Unterstellung! Priboschek nahm den Fehdehandschuh auf.
Der Ministeriumssprecher sendete einen geharnischten Brief gen Frankfurt: „Der Vorwurf, ‚gemeinsam Band‘ heiße in Wirklichkeit ‚gemeines Band‘, trifft nicht, da der Autor fachwissenschaftlich nicht auf dem neusten Stand ist“, teilte er der FAZ-Redaktion mit. Da im 17. Jahrhundert „die pejorative Konnotation von ‚gemein‘“ noch nicht existiert habe, belehrte Priboschek das Kluge-Köpfe-Blatt, hätte das Wort die Bedeutung von „gemeinsam“ besessen – „weshalb neuere historisch-kritische Ausgaben diese Variante zum besseren Verständnis des eigentlichen Sinnes des Barock-Gedichts verwenden“.
Klingt beinahe schon literaturwissenschaftlich hochbegabt, ist jedoch leider nichts weiter als grober Unfug. Tatsächlich hatte die zuständige Aufgabenkommission die ausgewählte Textvariante von „Vergänglichkeit der Schönheit“ ungeprüft einer im Berliner Cornelsen-Verlag erschienenen Gedichtsammlung entnommen und war dabei einem „redaktionellen Fehler“ aufgesessen, wie nun Schulministerin Barbara Sommer zerknirscht einräumen musste. „Keine Schülerin, kein Schüler muss jetzt befürchten, dass es deshalb eine schlechte Note gibt“, betonte die Christdemokratin. Sie verstehe „die Sorgen und Ängste der Abiturienten“ und könne „als Mutter auch die Befürchtungen der Eltern nachempfinden“.
Wie jene unsinnige Wortänderung in die aktuelle Auflage der Schulbuchversion des renommierten „Conrady“ gelangen konnte, sei ihm „absolut unerklärlich“, so der Herausgeber Hermann Korte, Literaturprofessor an der Universität Siegen. Der Verlag entschuldigte sich, es habe sich um einen „simplen Tippfehler“ bei der Texterfassung des Gedichtbandes gehandelt. Natürlich werde in künftigen Auflagen das Sonett wieder in korrekter Fassung erscheinen.
Der FAZ-Bericht war also zutreffend. Das Ministerium hätte gewarnt sein können. Denn es war nicht das erste Mal, dass die Feuilletonisten des Blattes ihren Spott mit den Düsseldorfer Bildungsbürokraten getrieben haben. Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatten sie sich despektierlich über eine Zentralabitursprobleklausur hergemacht. Denn in der sollten die Schüler unter anderem untersuchen, inwieweit Theodor Fontane die von ihm in einem Brief an einen Vertrauten „geäußerten Ansichten“ in seinem 1887 erschienenen Roman „Irrungen, Wirrungen“ literarisch „umgesetzt“ habe. Eine geradezu herkulische Aufgabe, denn den Brief an seinen Vertrauten Georg Friedlaender schrieb Fontane erst 1894. „Zurückführen auf etwas Späteres?“, fragte die FAZ erstaunt – und machte sich auch noch darüber lustig, „dass die Düsseldorfer Zentralabiturmacher den Amtsrichter Friedlaender beharrlich ‚Friedländer‘ nennen“.
Der diesmalige Patzer war übrigens zunächst dem Troisdorfer Gesamtschullehrer Eckart Rücker aufgefallen – noch während der Abiturklausur. Auf Bitten des Schulleiters verzichtete er jedoch darauf, den Fehler eigenmächtig zu korrigieren – um Chaos zu vermeiden. „Aber mit der Faust in der Tasche“, so Rücker zur taz.