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Archiv-Artikel

„Die Häuser waren ja immer da“

„Ein armseliges Provinz-Konzentrationslager“ hat der Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész das Außenlager in Rehmsdorf genannt. Schon drei Jahre nach der Befreiung der Häftlinge waren die Baracken wieder bewohnt – bis heute

AUS REHMSDORF JOSEFINE JANERT

Rehmsdorf ist ein unscheinbarer Ort in Sachsen-Anhalt. Rund 1.100 Menschen leben dort. Es gibt eine Kirche, eine „Schankstube“ und eine Schule. Der Linienbus fährt stündlich ins nahe gelegene Zeitz. Die meisten Rehmsdorfer haben Jobs in Leipzig und in den alten Bundesländern. Ortsbürgermeister Thomas Heilmann ist ehrenamtlich tätig und hat am Dienstagabend Sprechstunde. Sein Büro befindet sich im ehemaligen Gutshaus, wo auch die Heimatstube untergebracht ist. Der Ingenieur pendelt zum Arbeiten nach Bitterfeld.

Auf den ersten Blick sieht es in Rehmsdorf also nicht anders aus als in anderen Dörfern in der Umgebung. Nur die Häuser hinter dem stillgelegten Bahnhof fallen auf. Sie sind einstöckig und in Reih und Glied angeordnet wie eine Kaserne. Auf den Wegen dazwischen wächst Gras. Einige Häuser sind bewohnt, andere wurden während der DDR-Zeit von Volkseigenen Betrieben genutzt und stehen jetzt leer. Durch den Türspalt ist Gerümpel zu sehen, Reifen und Laub. In einen Fensterladen hat jemand Obszönitäten geritzt.

Der Wind treibt Regenwolken vor sich her und zaust das Haar der älteren Frau, die mit einem Begleiter den Weg entlangspaziert. Sie ruft nach der Katze. Die kommt nicht. Ganz hinten, am Ende des Viertels, steht ein Mehrfamilienhaus. Dort lebt ein Mann Mitte dreißig. Wusste er, was das hier einmal war, bevor er einzog? „Ja klar!“ antwortet er. „Und, stört es Sie?“ – „Nein, nicht wirklich.“ Er grinst. Mehr sagt er nicht. Das Paar und andere Anwohner sind auch kaum zu Auskünften bereit.

Bürgermeister Heilmann und der Ortschronist Lothar Czoßek möchten gern, dass die Menschen, die hinter dem Bahnhof leben, in Ruhe gelassen werden. Sie wollen nicht, dass Journalisten an den Türen klingeln und Fragen stellen. „Man muss sich einmal in die Leute hineinversetzen“, sagt der 1968 geborene Thomas Heilmann. „Sie sind zum großen Teil in meinem Alter und haben mit der Geschichte gar nichts zu tun. Das ist ja auch nicht gerade ein Thema, über das man freudig reflektiert.“

Die Häuser gehörten bis zur Befreiung am 11. April 1945 zu einem der 22 Außenlager des KZs Buchenwald. In ein paar der Baracken waren die Häftlinge untergebracht, andere waren Unterkünfte für die Wachmannschaften der SS. Zehntausend Männer waren hier eingepfercht; viele kamen um.

Nach Kriegsende wurde Rehmsdorf von hunderten Zivilisten überflutet, die vor der Roten Armee gen Westen geflohen waren. Ein Dach über dem Kopf fanden nur wenige. Im Jahr 1948 entschloss man sich, das ehemalige KZ als Auffanglager für die Vertriebenen zu nutzen. Die Flüchtlinge zogen in die Gebäude, in denen eben noch die Häftlinge gelitten hatten. Als man die Vertriebenen untergebracht hatten, meldeten andere Menschen Interesse an den Häusern an – in der DDR herrschte stets Mangel an Wohnraum.

„Offiziell hat ja keiner der neuen Bewohner gewusst, was genau sich hier früher abgespielt hat“, erklärt Czoßek. Erst 2003 habe ein Bericht aus erster Hand Rehmsdorf erreicht: Czoßek erhielt Einsicht in Koblenzer Gerichtsakten, in denen ehemalige Häftlingsinsassen ihre Qualen schilderten.

Aber es gibt auch eine andere wichtige Quelle: Imre Kertész war fünfzehn Jahre alt, als er nach Rehmsdorf bei Zeitz deportiert wurde. Vorher war er in Auschwitz und in Buchenwald. In seinem „Roman eines Schicksalslosen“ schreibt er, er habe gleich gesehen, dass er „diesmal nur in so ein kleines, armseliges, abgelegenes, sozusagen in ein Provinzkonzentrationslager gekommen“ sei. Nicht einmal ein Krematorium habe es gegeben. Die Gegend „war wieder eine eintönige Ebene“. Vom Ende des Zeltlagers habe er aber in der Ferne einen „bläulichen Gebirgszug“ erkennen können, den Thüringer Wald.

Lothar Czoßek hat Kertész getroffen, als der Schriftsteller 1997 nach Rehmsdorf kam. Ein Foto zeigt Czoßek und den Autor beim Bier. Es ist in einer der beiden Broschüren abgedruckt, die Czoßek über das Außenlager veröffentlicht hat. Das erste Heft erschien 1985 mit Unterstützung der SED-Kreisleitung. Die Veröffentlichung des zweiten wurde im Jahr 2005 von der Landeszentrale für politische Bildung gefördert. Bei seinem Besuch in Rehmsdorf war Imre Kertész aufgeschlossen, berichtet der Historiker. Aber in den Jahren danach habe er kaum etwas von sich hören lassen. Czoßek ist über dieses Schweigen enttäuscht.

Lothar Czoßek sammelt seit mehr als dreißig Jahren Material über das Lager. Er fing an, als er noch an der Rehmsdorfer Schule unterrichtete, und setzte diese ehrenamtliche Arbeit nach seiner Pensionierung fort. Er hat das Außenlager im Modell nachgebaut, hat Bücher über die Zeit gelesen, hat mit Zeitzeugen korrespondiert und sie durch Rehmsdorf geführt. Er ist heute Leiter der Heimatstube und Gedenkstätte Rehmsdorf. Einem, der sprachlich nicht so begabt war wie Imre Kertész, redigierte er einen Text über die Erinnerungen an das Lager. „Dabei sind viele Tränen über mein Gesicht geflossen“, sagt Czoßek. Er ist Jahrgang 1928, trägt Schirmmütze und Lederjacke. Er hat fast sein gesamtes Leben in diesem Ort verbracht. Neben Czoßek setzen sich auch andere Rehmsdorfer mit dem Erbe auseinander, das auf ihrem Ort lastet. „Es ist sehr schwer für uns, dass diese Häuser jetzt bewohnt sind“, sagt Gunhild Schmidt über die ehemaligen Häftlingsbaracken. Sie ist, ebenso wie Thomas Heilmann, eine ehemalige Schülerin Czoßeks.

Im Alter von 36 Jahren erlitt Schmidt einen Schock: Aus Czoßeks erster Broschüre hatte sie erfahren, dass die Häuser hinter dem Bahnhof einst zu einem KZ-Außenlager gehörten. Das habe ihr bis dahin niemand erzählt, sagt Gunhild Schmidt. Nicht ihr Vater, der erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, nicht ihre Mutter, die erst 1948 in die Gegend gezogen war. Auch nicht ihr ehemaliger Lehrer. Sie sei zu Lothar Czoßek hingegangen und habe ihn gefragt, warum er bisher geschwiegen habe. „Du hattest doch keine Jugendweihe“, habe er ihr geantwortet. „Deshalb hast du auch nicht an unserer Fahrt nach Buchenwald teilgenommen.“ Während der DDR-Zeit gehörte ein Besuch der Gedenkstätte zum Pflichtprogramm vieler Schulklassen, die sich auf die Jugendweihe vorbereiteten.

Gunhild Schmidt muss den Gedenkstein übersehen haben, der schon seit 1963 vor dem Bahnhof steht und der an die Transporte erinnert, die an diesen Gleisen aus Buchenwald eintrafen. Der Stein trägt die Aufschrift „Wir mahnen“. Seinerzeit sei es äußerst schwierig gewesen, der bürokratischen Reichsbahn diese Gedenkstätte abzutrotzen, sagt Czoßek.

Also gedenken die Rehmsdorfer der Toten. Sie gehen dazu ins ehemalige Gutshaus, wo Lothar Czoßek mit Unterstützung der Gemeinde eine Heimatstube und direkt daneben eine Ausstellung über das Außenlager eingerichtet hat. In der Heimatstube betrachten die Rehmsdorfer Alltagsgegenstände aus verflossenen Jahrhunderten, in der Ausstellung Fotos und Berichte Überlebender.

Die älteren Rehmsdorfer erinnern sich noch an Geschichten über Dorfbewohner, die den Häftlingen Brot zusteckten. Das war streng verboten. Wer auch nur vor dem Lager stehen blieb, konnte erschossen werden. Doch in der Nähe des Bahnhofs legte eine Frau Lebensmittel auf ein Fensterbrett, das für die Wachmannschaften schwer einzusehen war. Sie wurde von anderen Rehmsdorfern unterstützt. Die Pfarrerskinder warfen, wenn sich die Häftlinge durch den Ort zur Arbeit schleppten, ihre Frühstücksbrote in die Luft, damit die Männer sie aufschnappen konnten.

Erst in diesem Lager sei er „dahintergekommen“, schreibt Imre Kertész, „dass auch die Gefangenschaft ihren Alltag hat, ja, dass echte Gefangenschaft im Grunde aus grauem Alltag besteht“. Die Hauptsache sei, „sich nicht gehen zu lassen: irgendwie wird es schon werden, denn es ist noch nie vorgekommen, dass es nicht irgendwie doch geworden wäre.“

Lothar Czoßek versucht, anhand der Aufzeichnungen von Kertész und anderer Häftlinge deren Alltag nachzuvollziehen. Seit Ende 1944 Häftlinge in dem Außenlager hinter dem Bahnhof untergebracht waren, begegnete Czoßeks ihnen am Morgen und am Abend jedes einzelnen Arbeitstages. Czoßek war unterwegs zu einem Nachbarort, wo er Kupferschmied lernte. Die Häftlinge wurden in das nahe gelegene Werk der Brabag getrieben, der Braunkohle-Benzin Aktiengesellschaft. Das Unternehmen versorgte die Kriegsmaschinerie mit Treibstoff.

Nach Czoßeks Recherchen mussten die Männer bei der Brabag Gräben ausheben und schwerste Transportarbeiten verrichten. Wenn sie durch den Ort kamen, „war das das allergrößte Trauerspiel“, sagt Czoßek. „Ausgemergelte Gestalten schleppten sich in Fünferreihen die Straße entlang.“ Hinter der Kolonne rollte ein Karren mit den Leichen all jener, die unterwegs zusammengebrochen waren.

Wenige Tage nach Kriegsende, als die Flüchtlinge in die Gebäude hinter dem Bahnhof zogen, wurden Wachtürme und Stacheldraht abgerissen. Die Gebäude, die zu dem Außenlager gehörten, sind heute für Jüngere „etwas Alltägliches“, meint Bürgermeister Heilmann. „Die Häuser waren ja immer da.“ Von klein auf ist Heilmann auch an den Anblick der Garagen gewöhnt, welche die LPG, die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, 1962 auf den ehemaligen Appellplatz bauen ließ. Wo die Häftlinge oft stundenlang in der Kälte ausharren mussten, brachte die LPG ihre Traktoren unter. Inzwischen sind die Garagen wegen Baufälligkeit gesperrt. Davor liegen Steine. Im ehemaligen Krankenrevier, wo es nach Berichten von Überlebenden kaum Medikamente gab, befindet sich ein Bauhof.

Auch im Gebäude der Lagerleitung rechts hinter dem ehemaligen Lagertor wohnen Familien. Das Haus hat eine rötliche Fassade. Blumen stehen im Fenster. Lothar Czoßek und seine Familielebten von 1954 bis 1964 in diesem Haus, bis sie in Rehmsdorf eine andere Bleibe fanden.

Auf dem Gelände des ehemaligen Außenlagers hatten die Czoßeks dreieinhalb Zimmer, kein Bad und nur eine Außentoilette. „Im Winter floss im Schlafzimmer das Wasser die Wand hinab“, sagt Czoßek. Es sei sehr schwierig gewesen, die Häuser hinter dem Bahnhof bewohnbar zu machen. „Solche Wände waren das“, erzählt Czoßek und zeigt mit den Händen etliche Zentimeter Abstand. „Da ging kaum ein Nagel rein. Wie wir uns da geplagt haben!“

Ob er es jemals als unrecht empfunden hat, auf dem Gelände eines ehemaligen KZs zu wohnen? „Die Häuser waren stabil“, sagt Czoßek. „Wir waren froh, irgendwo untergekommen zu sein.“

JOSEFINE JANERT, 38, lebt als freie Journalistin in Berlin. Ihre Themen sind Zeitgeschichte, Gesellschaft – und Schweden