: Literatur zu Lebensfragen
Anthroposophen verdanken ihm die Verbreitung ihrer Ideen und der Schriften von Rudolf Steiner. Kinder und Jugendliche spannende, lehrreiche Bücher. Er verdankt ihnen allen seinen 60. Geburtstag: der Verlag Freies Geistesleben aus Stuttgart
VON JANET WEISHART
Wache Augen. Erfahren, wissbegierig. Die Schläfen schon grau, so wie sein Anzug. In der einen Hand ein Kinderbuch, in der anderen eine Rudolf-Steiner-Biografie. Im Herzen zugleich Kind, Wissenschaftler, Anthroposoph – so würde jemand diesen Verlag vielleicht als Menschen beschreiben. Sein Name „Verlag Freies Geistesleben“ klingt ein wenig antiquiert und doch hat der Verlag den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen. In den vergangenen 60 Jahren hat sich der Buchverlag gewandelt, verjüngt und ist erstarkt. Bis er schließlich zum weltweit größten anthroposophischen Verlag mit Sitz in Stuttgart wurde: mit aktuell 800 Titeln, 500 Autoren und Illustratoren sowie 22 Mitarbeitern, die neue Ideen entwickeln – auf drei Etagen im großen Bürgerhaus an der Landhausstraße.
Sein Elternhaus fiel einst bescheidener aus: eine schmucklose Wiege im Büro der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe. Jene Mitglieder verhandelten nach dem Krieg mit den Amerikanern, und 1947 war es dann so weit: Der „Verlag Freies Geistesleben“ wurde geboren. „Heute mag der Name zu programmatisch anmuten. Im geschichtlichen Kontext betrachtet, gibt er jedoch jene Sehnsucht der Gründungsväter nach einem freien Denken wieder, das ihnen zur Nazizeit nie möglich war“, erläutert der heutige Verlagsleiter Jean-Claude Lin.
Gleich das erste Verlagsprogramm – Bücher und Vorträge des geistigen Vaters der Waldorfschulen Rudolf Steiner – stieß auf große Nachfrage. Jedoch: Erfolgreich zu sein, war in dieser Zeit leichter, als erfolgreich zu bleiben. Das Papier war knapp, die Kapazität begrenzt, der Vertrieb schwierig. Mit der Währungsreform 1948 gerät der Verlag endgültig in die Krise. Er spart, entlässt Mitarbeiter – und kann sich retten, was dem Aufbau von anthroposophischen Instituten und von Waldorfschulen zuzuschreiben ist. Diese beziehen fast all ihre Bücher und die seit 1948 erscheinende Zeitschrift Erziehungskunst vom Verlag.
Jahr für Jahr gründen sich vier bis fünf Waldorfschulen neu. Ein Höhenflug des Verlags wäre denkbar gewesen, hätte Deutschland sich in den 1960ern – wie später nochmals nach der Wiedervereinigung – nicht verstärkt Konsum und Utilitarismus zugewandt. Das Interesse für Lebens- und Erkenntnisfragen stagnierte. Als der spätere langjährige Leiter Wolfgang Niehaus 1958 als Lektor zum Verlag kommt, beschreibt er dessen Situation als „bescheiden“. Darum baut er als Geschäftsführer 1965 „einen breiteren Autorenstamm auf, um die Anthroposophie in all ihren Facetten von der Kunst über die Landwirtschaft bis zur Medizin zu verbreiten“. Wie seine Vorgänger strebt er danach, anthroposophisch-akademische Literatur im Verlagsprogramm zu positionieren, um die „Seriosität“ zu untermauern. Erfolg stellt sich ein: 1970 verlässt der Verlag den Waldorfschulverein. Neue Träger und gleichsam solvente Bürgen werden der Bund der Freien Waldorfschulen und die Anthroposophische Gesellschaft Deutschland.
Die neue finanzielle Freiheit und eine weitere Gründungswelle von Waldorfschulen in den 1970ern verleihen dem Verlag Kraft: Als eine bis heute wichtige Existenzgrundlage verlegt Niehaus ab 1973 Arbeitsmittel für Waldorfkindergärten, wie etwa Freya Jaffkes „Spielzeug von Eltern selbst gemacht“. Jene Publikation wie auch Frans Carlgrens Einführung in die Waldorfpädagogik „Erziehung zur Freiheit“ – beides Bestseller – stehen für den Führungsstil von Wolfgang Niehaus und für die Maxime des Verlags: „Nicht auf den schnellen Erfolg setzen, sondern auf Nachhaltigkeit. Standardwerke schaffen, deren Grundqualität über Jahre gefragt bleibt.“ Dies Prinzip und gute Autoren, die laut Niehaus „damals leichter zu finden waren als heute“, mehren den Umsatz in zehn Jahren ums Zehnfache auf 2,6 Millionen Mark. In den 1980ern kooperiert Niehaus mit dem Fischer-Verlag, und es erscheinen Taschenbücher zur Anthroposophie, „um Steiners Lehre öffentlich zu verbreiten“. Einen ähnlich ungewöhnlichen Schritt wird später auch sein Nachfolger Jean-Claude Lin gehen.
Lin, britischer Geisteswissenschaftler und Lektor des Verlags, übernimmt 1991 das Zepter. Mit Niehaus vereint ihn, dass auch er bald vor Problemen steht: Umsätze stagnieren, wissenschaftliche Verlagsliteratur muss mit dem Internet konkurrieren. 1994 klopft der insolvente Verlag Urachhaus der Christengemeinschaft an seine Tür. Urachhaus wird unter Niehaus aufgepäppelt. Um das Programm zu erweitern, kommt Lin eine Leidenschaft zugute. Er, der nie aufgehört hat, abends Kinderbücher zu lesen, baut die Kinder- und Jugendbuchsparte mit englischsprachigen Autoren wie Peter Carter, Iain Lawrence oder George MacDonald erfolgreich aus, als „zweites Standbein neben der Waldorfpädagogik“.
Eine Frage, die Lin wie schon Niehaus nie loslässt, ist jedoch: „Wie bringe ich Menschen, die Buchläden meiden, zum Lesen?“ Womit niemand rechnet: dm- Drogerie-Chef Götz Werner offeriert ihm 2001 eine Lösung. Werner plant eine Kundenzeitschrift und will das Lebensmagazin a tempo, das im Freien Geistesleben und Urachhaus erscheint, als „kulturphilosophische Stimme der Drogerie“ integrieren. Eine bis heute oft bewunderte Kooperation, die dem Verlag neue Leser beschert. Auch neue Autoren kommen. Die Kinderbuchautorin Christa Ludwig wechselte bewusst und ist vollauf zufrieden: „Das Arbeitsklima ist hier immer freudvoll, die Lektoren nehmen sich viel Zeit und man ist offen.“
Freies Geistesleben, der mittelständische, sehr individuelle Verlag – im 21. Jahrhundert entwächst er zunehmend seinem Nischendasein. Mit „Schatten der Wächter“ von Graham Gardner gewinnt er 2005 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Weitere Auszeichnungen folgen. Doch „alle, die nicht Mainstream sind, haben es durch die Konzentration im Buchhandel schwer“, sagt Lin. „Unsere Zukunft ist eng an die Entwicklung der Waldorfschulen gekoppelt. Sie ziehen uns mit.“
Doch abwarten gilt nicht. Auch im 60. Jubiläumsjahr sind Mut und eine gute Lektorennase gefragt. Ein Beispiel: „Vor Jahren sagten alle: Der Fantasie-Roman sei out. Wir verlegten solche Bücher trotzdem, weil sie gut waren. Und sie verschafften sich ihre Leserschaft.“ Und heute? Lin: „Neben dem inspirierenden Werk von Rudolf Steiner publizieren wir momentan zum Beispiel Bücher zur Naturkindergartenwerkstatt, zum Umgang mit der eigenen Biografie oder zum Thema Filzen. Wenn wir solch neue Konzepte etwa aus der Pädagogik einbeziehen, werden wir immer für Leser interessant bleiben, die sich bewusst mit dem Leben auseinandersetzen.“