piwik no script img

Archiv-Artikel

Überwachung und Optimierungsglaube

LITERATURFESTIVAL 3 Wichtiges Buch unserer Zeit oder eine klischierte, schlicht – und auch noch schlecht – gezeichnete Fiktion? Literaturkritiker streiten über Dave Eggers Roman „The Circle“

Es gibt genau einen Roman in diesem Herbst, der nicht nur große Aufmerksamkeit erhielt, sondern auch extrem unterschiedlich besprochen wurde. Geschrieben hat ihn der US-amerikanische Autor Dave Eggers, er trägt den Titel „The Circle“. Darin geht es um ein Datenkrakenunternehmen à la Google, Facebook oder Apple, in das die junge Uni-Absolventin Mae Holland eintreten darf – sie wird in der Abteilung Customer Experience eingestellt und entwickelt sich zur Musterschülerin. Eggers will die schöne neue digitale Welt entzaubern und eine Dystopie zeichnen.

Auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin saßen am Samstagabend im Haus der Berliner Festspiele die Literaturkritiker der taz, der Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf dem Podium, um über das Buch zu streiten – ihre Rezensionen zu den Büchern reichten von hymnischer Besprechung bis zum Totalverriss.

Julia Encke von der FAS etwa gehört zu jenen, die den Roman für ein wichtiges Buch unserer Zeit halten, bilde er doch Transparenz, Überwachung und Optimierungsglaube in einer glaubhaften Zukunftsvision ab. „Die Welt ist nach der Lektüre eine andere, als sie es vorher war“, habe sie festgestellt, „wenn ein Buch das schafft, ist das schon viel.“

Schlechteste Sexszene

taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals hält dagegen, bei Eggers’ Buch handele es sich um eine klischierte, schlicht – und schlecht – gezeichnete Fiktion, die nicht funktioniere und einem wenig Erkenntnisse über das digitale Zeitalter vermittle. Er habe in „The Circle“ nicht nur „die schlechteste Sexszene des Jahrhunderts“ lesen müssen, sondern die Geschichte um Mae Holland gleiche in etwa „einem Frosch, der erst in lauwarmes Wasser gelegt, dann gekocht wird und langsam aufgeht“.

In der Debatte um die Hauptfigur kommt man in dem von Festivalleiter Ulrich Schreiber moderierten Gespräch langsam auf den Punkt. Wie zeichnet Eggers diese – fiktive oder reale? – unkritische Generation unternehmenshöriger junger Menschen? Entspricht das Buch dem Stand des Diskurses über „die“ digitale Ära?

Die Zeit-Feuilletonleiterin Iris Radisch sieht einen Dualismus zwischen den Idealen des „alten Europas“ und einem US-amerikanischen Blick auf den technischen Fortschritt. Es gebe in Amerika viele Leute, die sich „von diesem digitalen Zeitalter Erlösung erhoffen“, meint sie – und spricht von einer ganzen Generation, die blind folge. Ihren eigenen Argumenten zu folgen ist wiederum nicht nur deshalb unmöglich, weil sie – an der Grenze zum Antiamerikanismus – davon ausgeht, in den USA existiere keine kritische Öffentlichkeit und kein kritisches Bewusstsein. Auch ihre generalisierende Einschätzung im Hinblick auf jüngere europäische Generationen und globale Erfahrungen heute scheinen so nicht haltbar.

Wenn es darum geht, über die Relevanz von Eggers’ Werk zu urteilen, erscheint die Frage wichtiger, inwieweit es denn überhaupt zukunftsweisend ist. Die Diskussion über Vor- und Nachteile der digitalen Medien sei weiter, als dies der Roman abbilde, sagt Knipphals. Nimmt man einige Beschreibungen des Autors im Roman, in dessen Fiktion die Menschen zum Beispiel als Marktteilnehmer völlig gläsern sind, hat man das Gefühl, auch die Handlung bilde lediglich den heutigen Stand ab. Bei manch anderem, etwa der Entwicklung einer einzigen digitalen, wahren Identität namens TruYou, entwirft er Variationen des bereits Vorhandenen. Ein entscheidender Punkt aber scheint zu sein, dass Eggers keine Widerparts einbaut – dies bewertet Encke als nicht störend, während Knipphals es als eines der großen Mankos des Buchs ausmacht.

Während beim Lesen des Romans der Eindruck entsteht, die stereotyp überzeichnete Welt funktioniere als Dystopie nicht, zeigt sich in der Debatte, dass im Kampf gegen die Symptome, die die neuen technischen Möglichkeiten hervorrufen, schnell das Urteil gefällt wird, die digitale Ära an sich sei die Wurzel des Übels. JENS UTHOFF