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Archiv-Artikel

Permeables Milieu

AKTUELLE MUSIK Komponiertes und Improvisiertes, Klangkunst, Avantgarde-DJing und Laptopbasteleien: Zum sechsten Mal verdichtet das Hamburger „blurred edges“-Festival mit rund 50 Konzerten in zwei Wochen die weit verzweigte Szene zeitgenössischer Musik

Ziel ist auch, die Szene nach außen mit „unscharfen Rändern“ zu versehen

VON ROBERT MATTHIES

Weit verzweigt, nicht selten abseitig und alles andere als ausgetreten sind die Pfade der zeitgenössischen Musik in Hamburg. Und mitunter sind die kapillaren Verbindungen zwischen elektro-akustischer Klangkunst, radiophonen Essays, neophilen Laptopbasteleien, freier Improvisation und aktueller Komposition nur mit großer Mühe zu finden – nicht nur für das noch immer rare Publikum für aktuelle Musik, sondern auch für ihre Protagonisten. Da bedarf es gemeinhin schon echter Abenteuerlust und einigen navigatorischen Fingerspitzengefühls, all die autonomen Inseln zeitgenössischer Musik und Hörerlebnisse weit ab von gewohnter Konzertkost zu entdecken – und in ihrer Gesamtheit schließlich ein Archipel zu erkennen: die lokale Szene ist so agil, innovativ und vielschichtig, wie ihre Aktivitäten und Treffpunkte für die meisten unbekannt bleiben.

Die weitläufige Alltagskultur der Szene zu verdichten und die ganze Vielfalt der aktuellen Musik zur Geltung zu bringen, hat sich der Verband für aktuelle Musik Hamburg (VAMH) deshalb vor fünf Jahren mit dem Festival „blurred edges“ vorgenommen. Ziel war dabei nicht nur, die Szene selbst zu vernetzen, Abgrenzungen aufzulösen und Einkapselungen aufzubrechen. Sondern das dergestalt entstandene Corpus auch nach außen mit „unscharfen Rändern“ zu versehen: die verschiedenen Aktivitäten der unterschiedlichen ProtagonistInnen der aktuellen Musik einem größeren Publikum bekannt zu machen und in einem größeren Rahmen zu präsentieren. Und nicht zuletzt mit dem Avantgarde-Großereignis darauf hinzuweisen, dass die Förderung für aktuelle Musik fast ausnahmslos gestrichen worden war – und künstlerischen und kulturpolitischen Widerstand zu leisten. Auch organisatorisch: bis heute ist „blurred edges“ basisdemokratisch und ohne künstlerische Leitung organisiert, der VAMH koordiniert Bewerbungen, Organisation und Pressearbeit, die zahlreichen unterschiedlichen Veranstalter – Musiker, Veranstaltungsräume oder -reihen – kuratieren ihr Festival aber selbst.

Über 40 Veranstaltungen in 16 Tagen sind dabei in diesem Jahr zusammengekommen, 27 über die ganze Stadt verteilte Spielstätten präsentieren Komponiertes und Improvisiertes, Soundart und Klanginstallationen, visuelle Musik und Ausstellungen, Vorträge, Vermittlungsprojekte und Performances im öffentlichen Raum. Nicht nur die lokale Szene, sondern auch jede Menge internationale Künstler und Ensembles sind dabei zu entdecken.

Am Freitagabend etwa präsentiert in der „Fabrik“ im Gängeviertel am Valentinskamp das „Akros Percussion Collective“ drei Werke amerikanischer Komponisten für einen bis sechs Perkussionisten. Verschrieben hat sich das Sextett aus Akron in Ohio, dessen Konzerte bevorzugt an ungewöhnlichen Orte wie in einer ehemaligen Kohlenzeche stattfinden, der Ästhetik aller Perkussionsmusik im Nachhall von Varèses Komposition „Ionisation“, der ersten konzertanten Komposition ausschließlich für 13 Perkussionisten – der wir nicht zuletzt verdanken, dass ein Frank Zappa sich entschieden hat, Musiker zu werden.

Auch der Auftakt des Festivals ist bereits eine Zusammenarbeit von lokaler Szene, Berliner Musikern und internationalen Komponisten: Zu Gast ist das Ensemble Zwischentöne mit seinem „Orchester für direkte Demokratie“, das im letzten Jahr schon in der Bundeshauptstadt etliche „Kundgebungen neuer Musik“ durchgeführt hat. „I have nothing to say and I am saying it“, lautet das Motto der Performance mit 35 Megaphonen. Aufgeführt wird die am Freitagnachmittag in der Hochschule für bildende Künste (HfbK) und der Hochschule für Musik und Theater (HfMT). Am Samstag dann geht es von der Kunsthalle am Glockengießerwall mit einer Neue-Musik-Demo durch die Innenstadt bis zur Musikhalle. Beiträge dazu haben unter anderem Lokalmatadorin DJ Patex und der New Yorker Komponist, Aktions- und bildende Künstler Phil Corner beigesteuert. Dessen umfangreiches Schaffen ist dieses Jahr übrigens bei einer ganzen Reihe von Konzerten, Ausstellungen und Gesprächen zu entdecken. Unter anderem wird sein Werk am Montag in der HfbK präsentiert.

Auch Sonntag zeigt sich die hiesige Szene mit offenen Rändern: Ebenfalls in der „Fabrik“ im Gängeviertel treffen Hamburger Musiker auf die Improvisationsszene Istanbuls. Zu Gast ist unter anderem der Free-Jazz-Noise-Gitarrist Umut Çağlar, der die Szene am Bosporus mit seinem Netlabel „re:konstruKt“ auch international bekannt gemacht hat.

■ Hamburg: Fr, 6. 5. bis Sa, 21. 5., diverse Orte; Infos und Programm: www.blurrededges.de