Die Schawohls als Bittsteller

Die Mutter: „Schlimm ist, sich nicht den kleinsten spontanen Einkauf, nicht einen winzigen Luxus wie eine Minipizza leisten zu können“ Die Tochter: „Auf längere Sicht hätte ich den Sportverein aufgeben müssen, auch aus Scham, die Fahrten und Feiern nicht bezahlen zu können“

AUS CELLE PHILIPP GESSLER
UND CHRISTIAN WYRWA (FOTO)

Nein, da musste der Landkreis Hartz, dessen Briefpapier ein Hirsch mit mächtigem Geweih schmückt, ganz hart sein. Hart, aber gerecht. Die Verwaltung der Gebietskörperschaft teilte Ingfried Schawohl mit Schreiben vom 8. März mit, man lehne seinen Antrag ab, die Kosten für eine geplante Schulfahrt seiner Tochter Anika nach Wien zu übernehmen. Begründung: „Bei der Kursfahrt nach Wien handelt es sich offensichtlich nicht um eine Klassenfahrt nach Erlass d. MK. v. 30.06.1997 – 306-82 021.“ Die Teilnahme sei daher offenbar freiwillig – es fehle somit die rechtliche Grundlage für die Kostenübernahme. „Mit freundlichen Grüßen“, gezeichnet Horst-Peter Ludwigs.

Der herzlose Brief ist ein Spaß: Den „Landkreis Hartz“ gibt es nicht. Der paragrafentreue Herr Ludwigs ist beim Diakonischen Werk des lutherischen Kirchenkreises Celle angestellt, und Ingfried Schawohl, selbstständiger Programmierer, könnte die 320 Euro für die Wienreise seiner Tochter locker bezahlen. Aber das sieht er gar nicht ein. Denn er und seine Familie nehmen von Aschermittwoch bis Ostersonntag an der Fastenaktion der Landeskirche Hannover teil. Motto: „Und plötzlich bist du arm. Sieben Wochen leben mit Hartz IV“.

Das heißt, dass die vierköpfige Mittelstandsfamilie 40 Tage lang mit dem Geld lebt, das eine vergleichbare „Hartz IV“-Familie innerhalb von zwei Monaten zur Verfügung hätte. Konkret bedeutet das: Die Schawohls müssen statt mit monatlich rund 4.500 Euro netto mit genau 1.174 Euro auskommen. Auf den Cent genau hat Sozialpädagoge Ludwigs diesen Betrag nach den gesetzlichen Regeln berechnet, hat für die Fastenzeit den „Landkreis Hartz“ erfunden und als pingeliger Pseudobeamter wie ein kleiner Gott über seine „Hartz IV“-Geschöpfe gewacht.

Alles nur ein Spaß? Nein. „Durch die Aktion soll der Blick dafür geschärft werden, wie es Menschen am Rande der Gesellschaft geht“, sagt Ludwigs, ein leicht verschmitzter 48-Jähriger. Aus seinem schmucklosen Büro beim Diakonischen Werk, am Rande der Celler Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern, verfolgt er den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Armut. Auch wenn er seine Wut über die Hartz-IV-Regeln hinter feinem Humor verbirgt – das Ziel der Aktion ist ihm todernst: „Die Fastenden können am eigenen Leib erfahren, was es heißt, als Alleinstehender mit 345 Euro für den Lebensunterhalt auskommen zu müssen.“ Im Landkreis Celle nehmen 63 Haushalte an der von ihm erfundenen politischen Fastenwoche teil. Durch ihren individuellen Verzicht wollen sie ein gesellschaftspolitisches Signal setzen. Ihr Fasten nach den Regeln von Hartz IV ist ein Symbol, aber Ludwigs verfolgt ein weit über die 40 Tage hinausgehendes Ziel: „Vorurteile durch eigene Erfahrung abbauen, solidarisch leben und handeln, mitreden können und dadurch einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit leisten“.

Aber ist das nicht zynisch, für sieben Wochen Armut zu spielen – in der Gewissheit, nach kurzer Zeit wieder in die Welt des (west)deutschen Mittelstands zurückkehren zu können?

Die Familie Schawohl hat über dieses Dilemma lange gesprochen. Am Abend vor Aschermittwoch sitzen Anja (42), die als Diakonin arbeitet, und Ingfried (45) neben ihren Kindern Anika (17) und Lennart (15) am schwarzen Esstisch der Familie. Das Haus der Schawohls liegt in einer Eigenheimsiedlung am Rande von Celle. Das Ambiente ist bildungsbürgerlich, der Fernseher im Wohnzimmer winzig, im Regal, anders als im Rest des Hauses, steht nur ein Buch – die Bibel. Auf dem Klavier liegen aufgeschlagene Noten, ein „Irischer Reisesegen“.

Lennart räumt ein, dass ein wirklicher Hartz IV-Empfänger sich durch diese Aktion „eher verarscht“ fühle, anstatt sie als „ein Stück Solidarität“ zu begreifen, wie Mutter Anja sagt. Für sie sei die Aktion eine Chance, die Probleme eines Hartz-IV-Lebens „konkret an mich heranzulassen“. Anika findet das Experiment „spannend“, sei da aber eher „reingerutscht“. Natürlich sei die Hartz-IV-Zeit für die Schawohls nicht „real“, meint Lennart. Dass dies für sie „ein Planspiel ist“, dieses Bewusstsein sei bei allen Familienmitgliedern „permanent vorhanden“, sagt Ingfried – aber „nicht Kern der Überlegung“. Dennoch habe man darauf verzichtet, eine Einladung von Horst-Peter Ludwigs wahrzunehmen, bei einer Essensausgabe echte Hartz-IV-Empfänger zu treffen: Diese wären sich dann womöglich wie Tiere in einem Zoo vorgekommen, meint Lennart. „Wir als reiche Stinker“, sagt Anika.

Genau 684,05 Euro für „Nahrung, Getränke, Tabakwaren“ sind den Schawohls für die sieben Wochen insgesamt zugebilligt worden. Ganz nach den Regelsätzen. Sie müssen aber weder aus dem 140-Quadratmeter-Haus ausziehen noch das Auto aufgeben oder Versicherungen kündigen. So weit geht das Planspiel nicht. „Die 684,05 Euro für Lebensmittel können wir schaffen“, meint Anja Schawohl vor Beginn der Fastenzeit, „alles andere ist Wahnsinn.“

Ein paar Wochen später. Im Wesentlichen hat sich Anjas Prognose bewahrheitet. Penibel hat sie über die Ausgaben Buch geführt: Beim Essen musste nicht gespart werden – nur die Croissants zum gemeinsamen Frühstück am Samstag, eine Familientradition, wurden weggelassen. Es ist ein eher symbolischer Akt. Für Essen gibt die Familie nach eigener Einschätzung generell wenig aus, und geraucht wird nicht. Zum Bioladen gehen die Schawohls selten. Auch die befürchtete Reduktion des Fleischkonsums war nicht nötig. Es gebe anscheinend sogar mehr Fleisch als zuvor, ist ein Running Gag in der Familie.

Ein Witz hingegen sind das Verkehrsbudget für die sieben Wochen (108,01 Euro), der Telefonetat (108,01 Euro) und der „Freizeit/Kultur“-Posten (198,01 Euro). Auch die genehmigten 72,01 Euro für „Gesundheitspflege“ seien viel zu wenig, hat Anja festgestellt, als sie zur Krebsvorsorge ging (84 Euro) und Antiallergika (16,80 Euro) gekauft hat. „Da habe ich das Budget überzogen, weil ich meine Gesundheit langfristig erhalten will und muss.“ Als völlig illusorisch stellt sich heraus, 14 Prozent der monatlich 1.174 Euro zu sparen – „für langfristige Anschaffungen“, wie die Hartz-IV-Regeln es verlangen. Bei diesem Budget gleicht es einer Katastrophe, wenn die Waschmaschine repariert werden muss.

Und noch etwas stellt sich klar heraus: Die Haupteinschränkung für alle besteht darin, dass Ausgaben für Bildung, Kultur und den Erhalt von Freundschaften schlicht Luxus werden. Der Musikunterricht für Anika und Lennart für 110 Euro im Monat – undenkbar. Aber daran sollte, weil es um die Bildung geht, nicht gespart werden, hatte der Familienrat zuvor beschlossen. Der Kauf eines Buchs von Paul Auster für den Englischunterricht – grenzwertig. Ebenso die Fahrt nach Hannover, um für eine Facharbeit in einer größeren Bibliothek zu recherchieren. Kino war nicht drin. Das Frühstück mit Anjas Sportkameradinnen – gestrichen. Auf längere Sicht „hätte ich den Sport aufgeben müssen, auch aus Scham“, sagt Anja.

Fahrten mit dem Auto oder den Bus zu etwas weiter entfernten Freunden von Ingfried – ein seltener Luxus. Nachbarschaftshilfe mit dem Auto – zu kostspielig. „Die soziale Ausgrenzung haben wir ansatzweise gespürt“, meint Anja. Am schlimmsten sei vielleicht das Gefühl, dauernd Bittsteller zu sein, niemanden mehr einladen zu können, jede kleine Spontaneität beim Einkauf, jeden winzigen Luxus, und sei es eine Minipizza, sich kaum mehr leisten zu können. Auf den Automatenkakao in der Schule habe sie gleich am ersten Tag verzichtet, erzählt Anika. Die Beziehung zu ihrem Freund, der in der Nähe von Bremen wohnt, könnte leicht scheitern, wenn man sich aus Geldmangel noch seltener sehe: „Ich glaube nicht, dass wir das weiterführen könnten.“ Das Lebensnotwendige, zieht Ingfried ein erstes Fazit, sei mit dem Hartz-IV-Geld noch leistbar. „Aber es fehlt alles, was Lebensqualität bedeutet.“

Und dann die Reaktion des Umfelds: Eine Bekannte, eine Lehrerin, verheiratet mit einem Pastor, meinte, sie könnten diese Aktion gar nicht mitmachen, denn mehr als sie und ihr Mann könne man gar nicht sparen. Der Lehrerin kam nicht in den Sinn, dass sie und ihr Mann dreimal im Jahr in Urlaub fahren. „Das empfindet sie gar nicht als Luxus“, sagt Ingfried. Oder die andere Dame, die öfter in Feinkostläden einkauft: Sie sei fast empört gewesen, als sie von der Hartz-IV-Zeit der Schawohls hörte und habe das gar als Angriff empfunden. „Sie fand das fast unerträglich, auf den Lebensstandard, den sie sich erarbeitet hat, verzichten zu müssen.“

Das Thema Hartz IV ist angstbesetzt, erzählen die Schawohls. Fast ein Tabuthema, denn zu groß ist die Angst, selbst einmal davon betroffen zu sein. Sozialpädagoge Ludwigs bestätigt das: Als er 1998 für eine ähnliche Aktion – „Sieben Wochen leben mit dem Sozialhilfesatz“ – in Celle warb, gab es mehr Interessenten, darunter auch recht gut betuchte. Heute sei das Interesse geringer. Seine Erklärung: „Hartz IV ist zu nah.“ Das spiele man nicht mal so durch, das mache nur noch Angst.

Ein Besuch bei den Schawohls in der Karwoche. Anja, Ingfried und Lennart sind gerade von einer Woche Urlaub an der Ostsee zurück – sie haben die Hartz-IV-Zeit unterbrochen, was von Anfang an klar war. Anika war mit einer Freundin in Schweden. Nur mühsam konnte sich der Familienrat durchringen, für die letzten fünf Tage das „Hartz-IV-Fasten“ noch einmal aufzunehmen. „Jetzt muss man da durch“, sagt Anika.

Das Fazit aber steht schon fest: Mit Hartz IV auszukommen, das sei „eher überleben als leben“, findet Lennart. Alles, was der Horizonterweiterung diene, ob Bildung, Kultur oder das Gespräch mit Freunden, werde erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Das Selbstwertgefühl nehme ab, die Wertschätzung durch andere auch. Lennart: „Die Perspektivlosigkeit macht Hartz IV so hart.“

Übrigens: Am Ostersonntag gab es dann endlich die lange vermissten Croissants. Und die Wienreise von Anika hat Ingfried Schawohl auch bezahlt – alles andere wäre unrealistisch gewesen. Ludwigs Schreiben vom „Landkreis Hartz“ dagegen war realistisch. Die Sätze stammen aus einem echten Brief einer deutschen Behörde. Wort für Wort.