Echte Flüchtlinge gesucht

THEATER Nicolas Stemann macht Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ am Thalia Theater zu einer großen Frage: Wer darf sprechen? Und hat zugleich den Mut, die Grenzen des Engagements offen zu legen

Das Ringen um Sprache wird in Stemanns Inszenierung zum Kampf um Sprechpositionen

Auf die Work-in-progress-Ästhetik verzichtet Nicolas Stemann den ganzen Abend über nicht. Schon als das Publikum zur Premiere seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks Text „Die Schutzbefohlenen“ am Hamburger Thalia Theater allmählich den Saal füllt, herrscht geschäftiges Treiben. Auf der Bühne stehen Schauspieler mit Textbüchern, der Regisseur spricht mit Mitgliedern des Flüchtlingschors, in Videoclips beklagen Geflohene ihre unerträgliche Situation.

Plötzlich stürmt eine Gruppe an den Bühnenrand, skandiert die bekannte Parole: „We are here, we will fight. Freedom of movement is everybody’s right!“ Aber statt die Bühne zu erobern, muss sie im Dunkel am Rand Platz nehmen, Platz machen für das Sprechtheater und drei weiße männliche Schauspieler. Lange sprechen Felix Knopp, Sebastian Rudolph und Daniel Lommatzsch Passagen aus Jelineks Textkonvolut, eine wuchtige Anklage der Scheinheiligkeit des europäischen Migrationsregimes.

Aber weil im verzweifeltem Ringen um und Verwerfen von Sprechmöglichkeiten immer wieder bitterer Witz steckt, findet das Publikum endlich Gelegenheit zum Lachen. Verduzt schauen sich die Schauspieler an: „Sie haben nichts verstanden! Wir müssen alles noch einmal zusammenfassen!“

Stemann entscheidet sich, Rassismus und Diskriminierung im Theater zum Thema zu machen. Das Ringen um Sprache wird zum Kampf um Sprechpositionen. Als mit Ernest Allen Hausmann ein Vierter mit dunklerer Haut dazukommt, radebrecht das Dreiergestirn: „We are from the Thalia theatre. We are looking for real refugees who can tell us their authentic fleeing stories.“ Aber der Schauspielerkollege versteht sie nicht: „Sprecht deutsch mit mir!“

Zunächst wird Felix Knopp in den Hintergrund gedrängt. „Warum jetzt er? Weil er …?“ Malt sich schwarze Farbe ins Gesicht, wird zurechtgewiesen, der neue Kollege tröstet. „Ist schon okay.“ – „Nein, das ist eben nicht okay!“ Als auch Frauen hinzustoßen, wird immer umkämpfter, wer hier in wessen Namen im Vordergrund stehen darf.

Dann wird dem Flüchtlingschor die Bühne überlassen. Nun sprechen sie für sich, erzählen selbst ihre Geschichten, richten eindringliche Appelle ans Publikum, flehen um Schutz. Oder sprechen sie schon wieder Jelinek? Wertefibeln fallen auf die Bühne, Pakete mit Almosen. Darin: Ganzkörperanzüge, wie die Leichensäcke, in die man die Ertrunkenen hüllt. Zieht man sie zu, verlieren man sein Gesicht.

Doch der Flüchtlingschor lässt sich nicht mehr verdrängen, auch der Zaun, hinter den Frontex-Leute ihn verbannen, hält ihn nicht lange auf. Noch einmal versuchen einige, mit den Jelinek-Sprechern ins Gespräch zu kommen. „Wir haben jetzt keine Zeit!“, werden sie angeraunzt: „Wir müssen euch doch spielen!“

Tatsächlich: Die meisten, die hier spielen, haben keine Arbeitserlaubnis. Ein Mitglied des Chors spricht das im Stück an: Der Leiter des Theaters habe sich bis zuletzt gegen ihr Mitmachen gewehrt.

Am Ende gibt es viel Applaus für einen Abend voller Denkanstöße und offener Fragen. Aber Antworten geben und das Problem lösen, das könne das Theater eben nicht, richtet sich Stemann ans Publikum: die Tragödie spiele auf der weltpolitischen Bühne. Jeder müsse überlegen, was er persönlich tun könne. Dazu hat auch Intendant Joachim Lux noch etwas zu sagen: Falsch sei die Anschuldigung, das Thalia Theater kämpfe nicht um das Recht der Flüchtlinge, zu arbeiten. Stemann pflichtet aber nur zögerlich bei: Ja, man müsse zugestehen, am Ende sei es dann so gewesen.  MATT

Nächste Vorstellung: Di, 16. 9., 20 Uhr, Thalia Therater