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Archiv-Artikel

Klarheit für die Kinder der Elbmarsch

Vernichtete Akten und schwarz-blaue Kügelchen: Mehr als 20 Jahre nach dem Auftreten erhöhter Radioaktivität in der Elbmarsch versucht eine Experten-Anhörung ab heute erneut, die Ursachen für die hohe Blutkrebsrate in der Region zu finden

So fing alles an

„Ein Meßtrupp des Atomkraftwerks Krümmel hat eine erhöhte radioaktive Erdstrahlung in der Umgegend des Werkes gemessen. Die höhere Verstrahlung des Isotops Radon sei aber nicht auf einen Störfall im Atomkraftwerk, sondern auf das Wetter zurückzuführen, sagt Johannis Altmeppen, Pressesprecher der Hamburger Elektricitäts-Werke, die Krümmel betreiben… Oberkreisdirektor Klaus Harries … bestätigt die Erklärung. … Erhöhte Strahlenwerte … hätten Meßtrupps auch in anderen Landesteilen messen können.“  Aus der Lüneburger Landeszeitung, 16. 9. 1986

VON KAI SCHÖNEBERG

Das Wetter war schuld. „Vor allem wegen der Windstille“ sei „die ganz normale Radon-Verstrahlung aus der Erde nicht weggetragen worden“, erklärte ein Sprecher des Betreibers vom Atomkraftwerk Krümmel im September 1986. Gleichzeitig beruhigte er: Die Strahlung des radioaktiven Edelgases läge „weit unterhalb des Grenzwertes“. Noch mehr als 20 Jahre später ist ungeklärt, warum bislang 16 Kinder aus der Elbmarsch an Blutkrebs erkrankten, so viele wie sonst nirgendwo auf der Welt.

Ab heute beginnt in Hannover ein neues Kapitel der Aufklärung: Um die Ursache der seit Anfang der 90er Jahre aufgetretenen Leukämiefälle nördlich und südlich der Elbe zu klären, haben die Sozialausschüsse der niedersächsischen und schleswig-holsteinischen Landtage zu einer zweitägigen Expertenanhörung geladen. „Das erste Mal sitzen alle Wissenschaftlicher an einem Tisch, die sich mit dem Thema auskennen“, sagt Andreas Meihsies (Grüne), auf dessen Initiative die Anhörung stattfindet. Er will „Aufklärung jenseits von Spekulationen“.

Davon gibt es viele, obwohl sich bereits sechs Expertenrunden mit dem Thema befasst haben: Von geheimen Experimenten an einer Mini-Atombombe oder einem Fall-Out nach der Kernschmelze in Tschnerobyl ist die Rede. Laut Anwohnern soll es im Kernforschungszentrum GKSS in Geesthacht am 12. September 1986 einen schweren Unfall gegeben haben – und einen Strahlenalarm im nahe gelegenen Atomkraftwerk Krümmel. „Blaue und grüne Flammen“ sollen bei einem Feuer aufgestiegen sein, sagen Zeugen. Obwohl Satelliten dies angeblich nachweisen, streitet das Forschungszentrum den Störfall bis heute ab. Die Einsatzprotokolle des Löscheinsatzes aus dieser Zeit existieren nicht mehr, weil die Akten bei einem Brand 1991 vernichtet worden sein sollen – ausgerechnet in einem Metalltresor der Feuerwehr. Von den beiden zuständigen Landesregierungen eingesetzte Kommissionen trennten sich am Schluss stets im Streit: Sind Belege für einen kerntechnischen Unfall sowie andere Auffälligkeiten schlicht ignoriert worden? Das behauptet jedenfalls die emeritierte Bremer Physikern Inge Schmitz-Feuerhake, die auch angehört wird.

Aber selbst die Bäume haben es offenbar bemerkt. Die Jahresringe von Kastanien in der Nähe des AKW aus dem Jahr 1986 sind schwärzer als sonst: Radioaktives Tritium, sagen die Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch oder die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), es handle sich um „chemische Reaktionen“, behaupteten die Landesregierungen in Kiel und Hannover. „Von Herrn Professor Mironow erwarte ich mir schon konkrete Aussagen“, sagt Norbert Böhlke.

Bislang ist auch der CDU-Landtagsabgeordnete überzeugt, dass die Häufung der Erkrankungen keinen Zusammenhang mit den Atomanlagen hat. Allerdings haben die Untersuchungen des Atomexperten von der Sacharow-Universität in Minsk viele ins Zweifeln gebracht: Es geht um mikroskopisch kleine schwarz-blaue Kügelchen aus Bodenproben, die laut Mirownow künstlich entstanden sind, nichts mit dem Unglück in Tschernobyl zu tun haben und radioaktives Thorium und Uran enthalten. Die Bürgerinitiative, die zuvor Spuren von Plutonium und Americium in der Region nachgewiesen haben will, hatte die Kügelchen von Universitäten in Gießen und Marburg untersuchen lassen. In die Arbeit früherer Kommissionen flossen sie jedoch nicht ein. Verdacht erregte bei Atomkritikern zudem ein „Gegengutachten“ eines Frankfurter Instituts, dass die Kugeln nicht begutachten wollte, „weil die Brisanz der Problematik einfach viel zu hoch ist“.

„Mironow wird mit neuen, vor vier Wochen genommenen Bodenproben noch mal erhärten, was wir glauben“, sagt Uwe Harden. Der Sprecher der Bürgerinitiative und SPD-Landtagsabgeordnete will durch die Anhörung mit dem „Aberglauben“ aufräumen, dass die Atomanlagen in der Elbmarsch ohne Unglück „von außen verseucht wurden“. Die Kranken und ihre Angehörigen verdienten endlich Klarheit über die Ursachen ihres Leids, sagt Harden. Viele Kinder haben bislang Chemotherapie und Knochenmarkstransplantationen über sich ergehen lassen müssen. Harden: „Das ist eine Höllenfahrt für alle.“