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Archiv-Artikel

Wenn Stalin das noch erleben dürfte

Bulgarien gehört nun zur EU, aber die Macht des korrupten Apparates ist ungebrochen DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW

Ilija Trojanow hat derzeit die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität Berlin inne.

Was beginnt nicht alles mit einem unerwarteten Telefongespräch? Eine Schmierenkomödie. Eine Verleumdungskampagne. Ein politischer Skandal. Und ein weiterer Beweis, dass Bulgarien, seit gut drei Monaten Mitglied der Europäischen Union, noch tief im Sumpf der eigenen totalitären Vergangenheit steckt.

Eines frühen Morgens klingelte das Telefon in einer bescheidenen Wohnung in einem seit je halbfertigen Plattenbau in einer der Trabantenstädte Sofias. Ein Parlamentarier wünschte den Hausherrn, Georgi Konstantinow, dringend zu sprechen. Unsere Partei (die Vereinigung der demokratischen Kräfte, VdK) hat beschlossen, erklärte der Politiker, Sie als unseren Kandidaten für die Kommission aufzustellen. Welche Kommission?, fragte der Hausherr. Die Kommission über die Archive der ehemaligen Staatssicherheit.

Diese Wahl war einerseits überraschend – Georgi Konstantinow ist bekennender Anarchist, die VdK hingegen eine konservative Partei –, andererseits naheliegend, denn Georgi Konstantinow hat fast zehn Jahre in den Gefängnissen und Folterkammern des totalitären Regimes verbracht, die Staatssicherheit hat sich vier Jahrzehnte lang mit ihm beschäftigt. Er ist sozusagen qua Biografie ein Spezialist für die manipulativen Labyrinthe der Geheimpolizei. Also nahm er die Einladung an.

Laut Artikel 6 des Gesetzes über die Kommission muss jeder Kandidat von der „Nationalen Agentur Sicherheit“ (NAS), dem Nachfolger der Staatssicherheit, abgesegnet werden. Das heißt im Klartext, dass die Behörde, die von der Kommission überprüft werden soll, zuerst entscheiden darf, wer sie überprüfen wird.

Also begann die NAS in den Dossiers der bulgarischen Stasi zu wühlen und natürlich wurde sie fündig. Die NAS schlug Alarm: Georgi Konstantinow sei ein Terrorist, man könne ihm nicht Akten mit der Sperre „streng geheim“ anvertrauen, ihm müsse der Zugang zu „klassifizierten Informationen“ verweigert werden. Beweise wurden zwar keine vorgelegt, dafür aber Ausschnitte aus den operativen Dossiers der Stasi.

Tatsächlich hat Georgi Konstantinow Anfang 1953 ein Denkmal von Stalin in einem Sofioter Park gesprengt, und nur der baldige Tod des Vaters aller Nationen rettete ihn vor der Todesstrafe. Er wurde zu 20 Jahren Haft im Gulag verurteilt – ein Urteil, das am 17. 4. 1992 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben wurde.

Der Chef der Agentur, Iwan Draschkow, war allerdings anderer Meinung. Es spiele keine Rolle, ließ er verlautbaren, ob man das Denkmal von Stalin oder Hitler oder Botew (ein bulgarischer Dichter und Freiheitskämpfer) in die Luft sprenge, das Gesetz verbiete dies, womit er die Haltung des bulgarischen Establishments (ehemals Nomenklatura) klar zum Ausdruck brachte: Es hat keinen Unrechtsstaat gegeben, Gesetze sind stets Gesetze, und wer für den Staat ficht, ist ein Held, wer sich gegen ihn auflehnt, ein Schuft. Deswegen haben Politiker der regierenden Sozialistischen Partei überhaupt keine Berührungsängste mit ehemaligen Agenten oder Spitzeln. „Wir lieben unsere Mitarbeiter der Staatssicherheit,“ brüstete sich ein Parlamentarier, „wir haben kein Problem damit, sie für hohe Posten vorzuschlagen.“

Bulgarien ist nicht bereit für die Wahrheit über die Verbrechen des alten Regimes

Kaum war Georgi Konstantinow einmal diffamiert, legte die Presse eifrig nach. Eine Kolumnistin der Zeitung TRUD (so etwas wie die Bild-Zeitung Bulgariens), Valeria Velewa, empörte sich über den flegelhaften Vandalismus gegen das Denkmal von Stalin! Dass sie sich jemals über den „flegelhaften“ Massenmord durch die bulgarischen Schergen Stalins empört hätte, ist nicht überliefert.

Zudem wurden absurde Gerüchte und Vermutungen gestreut: Konstantinow müsse in irgendeiner Weise mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben, wie sonst hätte er 1973 in den Westen fliehen können. Oder es wurde nahegelegt, dass er für die westlichen Geheimdienste operativ tätig war – und somit für die heutigen Nato-Verbündeten, was ihn kaum disqualifizieren sollte.

Doch: Ein Großteil der Medien machte gemeinsam Front gegen Georgi Konstantinow. Von den 19 Kandidaten wurde nur er öffentlich in Misskredit gebracht. Der Grund lag auf der Hand: Unter ihnen war er allein ein Gegner der kommunistischen Diktatur gewesen. Allerdings gab es auch Zustimmung und Unterstützung für seine Kandidatur, und es gereicht dem Vorsitzenden der VdK, dem ehemaligen Präsidenten des Landes, Peter Stojanow, zur Ehre, dass er sich trotz aller Diffamierungen und Angiftungen bis zum Schluss zu seinem Kandidaten bekannte:

„Ist Bulgarien bereit für die Wahrheit über die Schrecken und Verbrechen des kommunistischen Regimes? Denn wenn nicht, wird sie sich weiterhin nicht von der Korruption und der Kriminalität verabschieden, deren Wurzeln im kommunistischen Regime liegen.“

Interessanterweise unterstützten alle anderen Oppositionsparteien lieber frühere Mitarbeiter der Staatssicherheit als den ehemaligen Widerstandskämpfer. Und Iwan Kostow, früherer konservativer Premierminister, zog es vor, sich mit den ehemaligen Kommunisten zu verbünden, um die Kandidatur von Georgi Konstantinow zu verhindern, weil dieser Kommunist sei. Willkommen in Absurdistan, neues Mitglied der EU!

Die Verleumdungskampagne nahm ein vorläufiges Ende, als Tzveta Markowa, Präsidentin der Staatlichen Kommission zum Schutze der Information, bekannt gab, dass Georgi Konstantinow als Kandidat ausgeschlossen werde. Ohne Angabe von Gründen. Denn: „Es sei weltweite Praxis, dass Motive, die sich bei der Ablehnung eines zu prüfenden Zugangs zu klassifizierter Information aus der klassifizierten Information selbst ergeben, klassifiziert bleiben müssen und damit der Öffentlichkeit nicht offengelegt werden können.“ Besonders vorteilhaft ist die gesetzliche Regelung, dass solch „klassifizierte Information“ nicht einmal vor der Kommission offengelegt werden muss und auch vor keinem Gericht einklagbar ist.

Die Behörde, die von der Kommission überprüft werden soll, darf entscheiden, wer sie überprüfen wird

Am Karfreitag wurde die Kommission endlich gewählt. Vorsitzender ist ein ehemaliger Polizeihauptmann, der bei der öffentlichen Anhörung gefordert hatte, dass die Archive der Staatssicherheit für 120 Jahre verschlossen werden. Sieben von neun Mitgliedern gehören der Regierung an, mehrere von ihnen sind oder waren Mitarbeiter des bulgarischen Innenministeriums. Georgi Konstantinow plant, die beteiligten Behörden gemäß Paragraf 286 des Strafgesetzbuches wegen amtlicher Verbreitung von Unwahrheiten zu verklagen.

Das ist Bulgarien im April 2007: Die hohen Töne der Feierlichkeiten zur Aufnahme in die EU sind verklungen, der Rauch der Feuerwerke verflogen, und der Alltag wird wieder bestimmt von jener organisierten Kriminalität, die sich aus der ehemaligen Staatssicherheit entwickelt hat und die den Staat und die Gesellschaft so sehr kontrolliert, dass nicht einmal ein einziger Querdenker in eine einzige Kommission zugelassen wird.