: Statt Altenheim erst mal Oma-Tagesstätte
„Entweder die Oma stirbt oder ich dreh durch“, hat René Beier gesagt, als die Großmutter bei ihm wohnte. Heute leitet er eine Tagesstätte, in der Alte tagsüber betreut werden. Die Reform der Pflegeversicherung könnte ein Recht auf Tagespflege schaffen
Der Status quo: Die Tagespflege soll ein Bindeglied zwischen der Versorgung zu Hause (ambulant) und im Heim (vollstationär) sein. Laut statistischem Bundesamt bieten nur 2,5 Prozent der Pflegeeinrichtungen eine solche Betreuung an.
Die Pläne der Politik: In ihren Konzepten zur Reform der Pflegeversicherung überlegen sowohl die Union als auch die SPD, Tagespflege als eigenen Leistungsanspruch neben der häuslichen Pflege durchzusetzen. Doch warnen die Unionsländer, dass dies sehr teuer werden könnte. Die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen im Gesundheitswesen fordert einen eigenen Anspruch und ein Extrabudget, das so bemessen sein sollte, dass die Pflegekosten an zwei Tagen in der Woche gedeckt sind. ALE
AUS GERINGSWALDE ANNA LEHMANN
Mit der Oma hat er sich immer gut verstanden. Als es häufiger vorkam, dass sie zum Bäcker ging, um Wurst zu kaufen, da war für René Beier klar: Sie zieht bei uns ein. Beier und seine Frau holten die Oma aus dem Erzgebirgsdorf in ihre 41 Quadratmeter große Leipziger Neubauwohnung, traten ihr das Wohnzimmer ab, und zum Fernsehen gingen sie in die Küche. Nach eineinhalb Jahren unter einem Dach war René Beier an dem Punkt: „Entweder die Oma stirbt jetzt oder ich dreh hier durch.“
15 Jahre später – die Oma war längst friedlich gestorben – konnte René Beier umsetzen, was ihm schon lange vorschwebte: eine bezahlbare Vormittagsbetreuung speziell für demente Menschen. Seit zwei Jahren gibt es in Geringswalde im mittelsächsischen Hüggelland eine Rentner-Tagesstätte. Beier ist Pflegedienstleiter des örtlichen Diakonischen Werkes. Viele seiner Kunden zeigen die gleichen Symptome der Demenz wie einst die Oma: Sie werden vergesslich, unduldsam und driften in eine eigene Welt ab.
1,2 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Demenz, Tendenz steigend. Im Jahre 2050 werden etwa doppelt so viele Deutsche betroffen sein, prognostiziert das Robert-Koch-Institut. Dank des medizinischen Fortschritts sind sie körperlich fit, brauchen aber trotzdem rund um die Uhr Beistand im Alltag. Einen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung haben Demenzkranke bisher nicht, Fürsorgeangebote sind rar.
Die Politik hat das Problem erkannt: Bei der anstehenden Reform der Pflegeversicherung sollen Demente als pflegebedürftig berücksichtigt werden. Zudem überlegen die Regierungsparteien, ob es nicht ein Recht auf Tagespflege geben sollte – um Angehörige zu entlasten. Was das kosten würde und wer es bezahlen soll, darüber streiten Union und SPD noch.
Ein Besuch in René Beiers „Herberge zur Heimat“ kostet 2,30 Euro. Das geht nur, weil der Freistaat Sachsen den Modellversuch bis nächstes Jahr fördert und sechs ehrenamtliche Helferinnen die hauptamtliche Pflegerin unterstützen. Zehn Frauen sitzen an diesem Vormittag um einen Tisch und erfühlen unter Anleitung einer Ergotherapeutin Gegenstände in Kartons. „Das musste mit Gefühl machen, wie in der Liebe“, sagt eine der Frauen. Die anderen kichern.
Es gebe mehr Anfragen als Plätze, sagt der Chef der Geringswalder Diakonie Peter Pocher. Wer einen der 25 Plätze in der Tagesbetreuung erhalte, das werde nach Notlage entschieden. Die 80-Jährige, die nach dem Tod des Mannes auf dem Hof vereinsamt, soll mal wieder unter Leute; aber auch Menschen, die bei Tochter oder Sohn wohnen: „Wenn da Angehörige kommen, die einfach fertig sind, versuchen wir sie zu entlasten. Dann können sie vielleicht noch ein Jahr weitermachen mit der Oma“, erzählt Pocher. Mit Hilfe der Tagesbetreuung sollten Heimaufenthalte vermieden werden. Erst wenn es gar nicht mehr ginge, könnten die Tagesgäste sich im Heim der Diakonie oder im betreuten Wohnen anmelden.
Das katholische Pflegeheim im 30 Kilometer entfernten Grimma bietet ebenfalls eine stundenweise Tagesbetreuung an. „Das ist für viele das Sprungbrett für einen späteren Heimaufenthalt“, sagt Heimleiterin, Birgit Käseberg. Hier kostet ein Besuch je nach Pflegebedürftigkeit zwischen 37 und 50 Euro. Oft müssen die Gäste oder ihre Angehörigen den Betrag selbst zahlen, entweder, weil sie nicht als pflegebedürftig gelten, oder das Geld schon fürs Waschen und Einkaufen durch einen Pflegedienst draufgegangen ist. Die Pflegekassen bezahlen Tagesbetreuung nicht extra. „Viele können sich das nicht leisten und kommen deshalb nur einen Tag in der Woche, obwohl die Kinder mit der Betreuung eigentlich überfordert sind“, berichtet die Leiterin der Tagespflege, Martina Michael.
Die Tagesgäste sitzen auf der Terrasse und lassen sich von der Nachmittagssonne bescheinen. Etwa die Hälfte von ihnen sei dement, sagt Michael. Manche durchs Alter, manche durch Alkohol. Die Altersspanne reicht von 53 bis 99. Der jüngste ist Hans-Jürgen S., der nach jahrelangem Gewohnheitstrinken und einem Gehirnschlag nicht mehr allein klarkommt. „In letzter Zeit kommen immer mehr solche Jugendlichen zu uns, die gehören eigentlich gar nicht hierher“, sagt Michael. Für alle den Tag mit Leben zu füllen, sei wie ein kompliziertes Puzzle. „Aber wenn die Gäste morgens kommen und sagen, sie freuen sich, hier zu sein, dann freuen wir uns auch.“ Selbst wenn sie es gleich darauf wieder vergessen.