: Die Mauer muss weg
ORIENTAL DUB Der Watcha Clan aus Marseille propagiert das Prinzip Vielfalt. Das spiegelt sich bereits in der Familiengeschichte seiner Frontfrau, Sista K
VON JONATHAN SCHEINER
Mag sein, es liegt am Zwielicht, das die gelben Vorhänge im morgendlichen Zimmer verbreiten. Mag sein, es liegt an der wursteligen Art, wie sie ihre Locken mit der Sonnenbrille nach oben gesteckt hat. Aber diese Frau, die nach jedem Satz an ihrem Kräutertee schlürft, ist kein Tausendschönchen. Zumindest nicht um diese Uhrzeit. Doch abends, wenn Sista K auf der Bühne steht, dann ist das ganz anders. Da tanzt die Frontfrau des Watcha Clan wie ein wilder Derwisch, benutzt schon mal ein Megafon zum Singen und hat ihr Gesicht mit goldenen Ornamenten verziert. Auf dem Kopf trägt sie einen bunten Turban und ein paar ihrer widerspenstigen Locken hat sie mit Rasta-Bändern umwickelt. Ein wahrer Hingucker!
Die Bühnenfigur mit dem Künstlernamen Sista K heißt im richtigen Leben Karin Hallakoun. Der französisch-deutsche Vorname verweist auf ihre litauisch-aschkenasische Familie mütterlicherseits, der arabische Nachname hingegen auf ihren Vater, einen sefardischen Berber aus Algerien. „Mein Bruder kam in Israel zur Welt“, dort hatten sich ihre Eltern einst kennen gelernt, erzählt die Sängerin. „Und ich, ich bin in Marseille geboren und damit die einzige Französin in der Familie“, sagt sie stolz. „In Marseille gibt es viele Immigranten“, fügt sie hinzu. „Also bin ich dort genau am richtigen Ort.“
Karin Hallakoun verrät, dass sie erst vor rund zehn Jahren anfing, sich intensiver mit ihrer Herkunft zu beschäftigen. „Ich wurde im Norden von Marseille geboren, wo es viele Araber und Muslime gibt. Ich fühlte mich dort weder jüdisch noch arabisch. Mir war das egal.“ Doch dann hat eine Reise in das Geburtsland ihres Vaters, nach Algerien, alles verändert: „Mein Vater ist Berber. Viele Berber sind jüdisch, denn vor der arabischen Eroberung Nordafrikas lebten dort viele Juden und Berber. Also gab es auch viele Mischehen zwischen ihnen.“
Doch nicht nur die Entdeckung ihres jüdisch-berberischen Erbes hat die Sängerin damals verblüfft. „Meine Familie kommt wirklich aus Afrika. Mein Großvater war fast schwarz. Für ihn wie für viele andere war es deshalb ein großer Schock, als sie im Unabhängigkeitskrieg von der Kolonialregierung kurzum zu Franzosen erklärt wurden, denn sie hatten ja keinerlei Beziehung zu Frankreich.“
Seit der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eskaliert ist, hat sich das tolerante Miteinander selbst in der Vielvölker-Metropole Marseille verändert. Die Leute unterscheiden jetzt zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Arabern und Juden, sagt Sista K. Ganz im Gegensatz zu der Sängerin selbst, die auf Jiddisch genauso wie auf Arabisch, Englisch, Spanisch und Französisch oder gar Hebräisch singt. Aber egal was sie singt – es ist immer politisch gemeint.
Auch auf „Radio Babel“, dem aktuellen Album des Watcha Clan, wird eine geradezu babylonische Sprach- und Völkervielfalt beschworen. In den neuen Stücken geht es viel um Mauern und darum, wie man sie überwindet – die Mauer zwischen Arm und Reich, zwischen den USA und Mexiko, zwischen Europa und Afrika oder zwischen „Isaak“ und „Ismael“, wie es im Track „We are One“ heißt.
Das Prinzip Vielfalt spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Band aus dem Meltingpot Marseille. Neben dem französischen Electronic-Frickler Suprem Clem und dem korsischen Kontrabassisten Matt Labesse spielt der Algerier Nassim Kouti die Gitarre und das afrikanische Saiteninstrument Gumbri. Zusammen mischen sie Drum ’n’ Bass und arabische Musik, HipHop und jiddische Gassenhauer wild durcheinander. Sogar Gegensätzliches hat in ein und demselben Song Platz. So wird die Musik zum Spagetti-Western „Once Upon a Time in the West“ kurzerhand zu „Il etait un fois dans L’est“ (Es war einmal im Osten) umfunktioniert, indem der ostjüdische Klassiker „Shejn vi di levone“ recycelt wird. Die Schtetl-Nummer „Tschiribim“ wird dagegen zur Bauchtanz-HipHop-Orgie und Ofra Hazas Ohrwurm „Im Nin’Alu“ zur poppigen Dancefloor-Version. Außerdem mit dabei: nordafrikanische Gnawa-Grooves, Abstecher in den Tuareg-Rock („Hasnaduro“) oder in den algerischen Rai („Osfour“).
Hinzu kommen auf „Radio Babel“ Gastmusiker aus aller Herren Länder. Neben dem englischen Klarinettisten Merlin Shephard spielt der Altvater des mediterranen Piano Oriental, Maurice El Medioni, eine prominente Rolle. Neben dem Banjo von Maurice Lo Cicero taucht die Geige von Pee Wee auf, neben der Oud-Laute des Experimentalisten Mehdi Haddab die Flamenco-Gitarre von Alexandre Morier, und mit Fanfare Ciocarlia spielt gleich noch eine ganze Balkanbrass-Band mit. Ein geradezu babylonisches Miteinander der Stimmen. Das Resultat ist kein karnevalesker Multikulti-Klamauk. Es ist die reine Lust an der Polyfonie dieser Welt.
■ Watcha Clan: Radio Babel (Piranha/Indigo)