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Archiv-Artikel

Geschichten sind die beste Medizin

Literaturfestival 4 Ishmael Beah aus Sierra Leone und Yvonne Adhiambo Owuor aus Kenia verarbeiten nationale Traumata in ihren Romanen – in Berlin lesen sie bewegende Passagen daraus

In seiner kulturellen Tradition, erklärt Ishmael Beah, lerne man zuerst, ein guter Zuhörer zu sein, bevor man zum Geschichtenerzähler werden könne. Beah stammt aus Sierra Leone und lebt heute in den USA. Er spricht ein klanglich kosmopolitisches, ameriko-afrikanisches Englisch und schreibt natürlich auch auf Englisch, der Lingua franca der globalisierten Literatur.

Kindersoldat in Sierra Leone

Beahs Muttersprache allerdings ist Mende, eine der in Sierra Leone gängigen Sprachen – ein Umstand, auf den der Moderator Knut Elstermann im Haus der Berliner Festspiele am Montagabend im Gespräch mit dem Autor gleich zu Beginn hinweist. Er denke permanent in mehreren verschiedenen Sprachen, sagt der Autor. Beim Schreiben übersetze er diese Mixtur ins Englische, versuche auch sehr bewusst, manche Eigenschaften des Mende im Englischen wiederzugeben.

Ishmael Beah erregte vor ein paar Jahren international Aufsehen mit einem eindrucksvollen autobiografischen Bericht über sein Schicksal als Kindersoldat, der unter dem Titel „Rückkehr ins Leben“ 2007 in Deutschland erschienen ist; jetzt hat der Autor seinen ersten Roman veröffentlicht. „Radiance of Tomorrow“, bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt, handelt von Sierra Leone nach dem Bürgerkrieg und beschreibt die Erlebnisse von Menschen, die in ihre zerstörten Dörfer und Häuser zurückkehren. Es sind traumatische Bilder, die der Roman evoziert, und doch wirken sie, vorgelesen im Erzählfluss, weniger schockierend als in den Sätzen, mit denen der Autor die Lesung eingeleitet hat: Natürlich, erklärt er, habe es kaum Möglichkeiten gegeben, all diese Bürgerkriegstoten gleich zu begraben. Daher fanden die Menschen, wenn sie nach dem Krieg wieder in ihre Dörfer kamen, dort massenweise skelettierte Leichen vor. Knochen überall. „Das hieß, zuerst musste aufgeräumt werden. Das taten meist die Alten, die zuerst gekommen waren. Sie sammelten die Knochen und begruben sie. Danach kamen auch die anderen und begannen ihre Häuser wieder aufzubauen – mit Hilfe von allem, was die Natur so hergab.“ Beah spricht viel und mitreißend; offenbar hat er als Kind gut zugehört, denn es ist ein charismatischer Erzähler aus ihm geworden. „In meiner Tradition glauben wir daran, dass Geschichten wie Medizin sind“, sagt er. Als er gefragt wird, ob seine Bücher auch in Sierra Leone bekannt seien, lacht er und kündigt gut gelaunt an, dass er vor seiner nächsten Reise in die Heimat seinen amerikanischen Verleger um einen möglichst großen Stapel seines Romans bitten werde, damit er ihn klandestin an öffentlichen Orten auslegen könne. Ja, sein erstes Buch „Rückkehr ins Leben“ sei in Sierra Leone zwar durchaus diskutiert worden. Aber so wie er auftrete, leger in Flip-Flops und gänzlich ohne begleitende Entourage, habe ihm dort ohnehin niemand geglaubt, dass er es war, der dieses Buch geschrieben habe.

Anders stellt sich die Lebens- und Publikationssituation der Kenianerin Yvonne Owuor dar, die später am selben Ort zu hören ist. Selbstverständlich sei ihr Roman auch in Kenia erschienen, erklärt sie, Englisch sei schließlich eine der offiziellen Amtssprachen. Owuor, die unter anderem in Großbritannien studiert hat und ein lupenrein britisches Englisch spricht, lebt zurzeit wieder in Nairobi. Ihr Debütroman „Dust“ (noch nicht auf Deutsch erschienen) erzählt vom Tod eines jungen Mannes, der während der gewaltsamen Unruhen nach den Wahlen Ende 2007 ermordet wird, von der Trauerarbeit seiner Familie und dem Umgang des Landes mit historischen Traumata. Während Owuor (und die Schauspielerin Regina Gisbertz auf Deutsch) die Passage vom Sterben des jungen Odidi liest, wird es still im Saal. Die Geschichte geht unter die Haut. Wenn das passiert, ist es jedenfalls ganz leicht, ein guter Zuhörer zu sein. KATHARINA GRANZIN