: „Die Côte d’Azur ist es nicht “
TSCHERNOBYL Piloten leben gefährlicher als er, sagt AKW-Guide Nikolai Fomin. Den Job der Arbeiter an der neuen Schutzhülle würde er aber nicht machen wollen
■ 25, hat 2010 die staatliche Tourismus-Akademie in Kiew absolviert. Seither führt er für die staatliche Agentur „Chernobyl Interinform“ Touristen durch die Todeszone um das Atomkraftwerk von Tschernobyl.
INTERVIEW NICK REIMER
taz: Herr Fomin, Sie sind Fremdenführer in der verstrahlten Zone um das Atomkraftwerk Tschernobyl. Wie kommt man zu so einem Beruf?
Nikolai Fomin: Im vergangenen Jahr habe ich mein Studium an der Tourismus-Akademie abgeschlossen. Die Tschernobyl-Stelle war im Internet ausgeschrieben, ich war sofort begeistert.
Warum?
Die Menschheit unternimmt hier in der Gegend einen Langzeitversuch: Was wird aus einem atomar verseuchten Gebiet, das einst bewohnt war? Wie geht man damit um? Wie kann man Folgen lindern, wie bekämpfen? An diesem Experiment selbst in der Sperrzone teilzunehmen hat mich gereizt.
Ist das nicht riskant?
Bergführer leben gefährlicher.
Wie hoch ist die Strahlendosis, die Sie in diesem Jahr bereits abbekommen haben?
[Fomin holt ein Messgerät aus der Tasche und zeigt es.] 4,4 Millisievert in diesem Jahr. Das ist ungefähr so viel, wie man bei 20 Interkontinentalflügen abbekommt. Sie sehen also: Piloten, Stewardessen oder Manager, die die ganze Zeit um die Welt jetten, leben gefährlicher als ich.
Wer bucht so einen Trip?
Die Tagesreise bucht so ziemlich jede Art von Mensch. Deutlich in der Überzahl sind aber junge Männer aus dem englischsprachigen Raum, also Briten, Kanadier, Australier. Im vergangenen Jahr hat unser Reiseinstitut 7.000 Menschen durch die gesperrte Zone begleitet. Im Moment jedenfalls ist die Nachfrage riesig
Was bekommen die Kunden denn für ihr Geld?
Die Reise beginnt in der Stadt Tschernobyl: Dort liegt die Strahlung mit 17 Mikrosievert mittlerweile so niedrig wie bei den meisten Leuten zu Hause. Mit einem VW-Van umfahren wir dann das Kraftwerk weiträumig.
Und die nächste Station?
Prypiat, die Stadt der Atomkraftwerker. Zwei Tage nach der Reaktorkatastrophe vor 25 Jahren wurde die Stadt evakuiert, man sagte den 49.000 Einwohnern, das sei nur für wenige Tage. Deshalb ließen sie auch alles zurück. Prypjat war eine durch und durch sozialistische Stadt, und das kann man noch heute besichtigen. In einer Sporthalle lassen sich noch Spruchbänder zu Lenins Geburtstag entziffern, im Theatersaal gibt es welche zum 60. Jahrestag der Sowjetunion. Die Schulbücher von 1986 sind noch da, genauso wie die Schulaufsätze über die Bedeutung Lenins.
Klingt eher schaurig als attraktiv!
Na ja, die Côte d’Azur ist es natürlich nicht. Aber wenn im Zimmer Nummer 427 des Hotels Prypiat plötzlich eine Birke aus dem Fußboden wächst, an der Wohnzimmerwand ein Kalender von 1986 mit den eingetragenen Geburtstagen der Familie hängt oder die Touristen in der Mittelschule auf tausende Kindergasmasken stoßen, die auf dem Boden verteilt liegen – dann bekommen sie schon ein Gefühl für die Katastrophe.
Und das ist nicht gefährlich?
Zur Abschreckung zeige ich der Reisegruppe gleich zum Anfang in Prypiat ein Experiment. Normalerweise beträgt die Strahlung in den Häuserblocks, den Polizeigebäuden oder Schwimmhallen maximal so um die 0,05 Millisievert. Und dann gehe ich mit dem Geigerzähler auf Moos: Da wird der ganz verrückt, heult auf, zeigt 1,2, bis 1,5 Millisievert. Moos absorbiert Radioaktivität, weshalb ich meinen Leuten immer dringend abrate, auf Moos zu treten.
Nach dem Besuch der Geisterstadt geht es zum „Mittagessen in der Kantine des Atomkraftwerkes“.
Viele stellen sich die Sperrzone um Tschernobyl tot und menschenleer vor. Aber derzeit arbeiten hier noch 7.000 Leute, vor zehn Jahren waren es noch über 10.000 und in den 90ern sogar noch deutlich mehr. Die Atomreaktoren eins bis drei des Tschernobyl-Kraftwerkes arbeiteten ja weiter und natürlich brauchen tausende Arbeiter auch eine gute Kantine.
Mittagessen 500 Meter vom havarierten Reaktor entfernt: Das klingt grotesk. Fahren Sie mit den Touristen auch direkt bis an den Reaktor ran?
Natürlich! Dafür haben sie doch bezahlt!
Und das überleben die Touristen?
Garantiert genau so wie ihr Führer: In hundert Meter Entfernung zum Sarkophag beträgt die Strahlung 0,4 bis 0,5 Millisievert pro Stunde. Und es geht ja nur darum, einen Eindruck zu bekommen und ein paar Fotos zu schießen: Nach 15 Minuten sind wir wieder weg.
Klingt alles ganz harmlos. Etwa so, als habe der Atomunfall 25 Jahre später seine Schreckensmacht verloren. Übertreibt beispielsweise Greenpeace, wenn sie vor den Atomgefahren warnen?
Die Stadt Tschernobyl ist genauso gereinigt worden wie die Straßen in der Sperrzone. Das heißt aber noch lange nicht, dass es hier ungefährlich wäre: Jenseits der viel befahrenen Straßen gibt es Gebiete, in die ich niemals hineingehen würde – die Strahlung wäre lebensgefährlich. Den Job, den die Arbeiter beim Bau der neuen Schutzhülle verrichten, würde ich zum Beispiel niemals machen: Sie setzen sich stündlich 2 Millisievert aus – die Jahresdosis für Kernkraftwerks-Mitarbeiter liegt bei 20.
Ausgerechnet zum 25. Tschernobyl-Jahrestag diskutiert die Ukraine den Plan für neue Atomkraftwerke. Wie passt das zusammen?
Wir haben momentan 5 Atomkraftwerksstandorte in der Ukraine mit 10 Reaktoren. Und weil die Ukraine sehr viel Energie braucht, sollen demnächst neue dazukommen. Uns ist bewusst, dass es keine Alternative zur Atomkraft gibt: Die Ukraine ist ein rohstoffarmes Land.
Ein Standort, der diskutiert wird, wurde wiederholt von Erdstößen erschüttert. Fukushima mahnt Sie nicht ein bisschen?
Der Tsunami und seine Folgen sind eine große Tragödie für Japan und eine weitere Lektion für die Menschheit: Wenn man Atomkraft nutzen will, muss man sie sicher machen. Unsichere Atomkraftwerke bergen immer ein Restrisiko.