Blick auf zerrissene Lebensläufe

DOKUMENTATION Die Filme des italienischen Regisseurs Giovanni Cioni berichten achtsam über all jene, die den alltäglichen Lauf der Dinge stören. Eine Werkschau im Kino Babylon

Cionis Kino ist demütig gegenüber den Menschen, von denen es berichtet

VON LUKAS FÖRSTER

Es beginnt mit einem Haufen Totenköpfen, die auf dem neapolitanischen Friedhof Fontanelle ruhen. Die Toten, wird einem durch eine Texteinblendung mitgeteilt, sind Opfer einer Pestepidemie aus dem Jahr 1652. Damals wurden sie anonym und zeremonienlos unter der Stadt verscharrt, jetzt versuchen sie, Kontakt zu den Lebenden aufzunehmen, vor allem, indem sie in deren Träumen auftauchen. Aber nicht etwa in böser Absicht: Die Gebeine auf dem Friedhof scheinen für die lokale Bevölkerung zu Schutzengeln geworden zu sein, zu guten Geistern, die, obwohl sie selbst keine Erlösung gefunden haben, über die Lebenden wachen.

„In purgatorio“ heißt der Film des italienischen Dokumentaristen Giovanni Cioni, entstanden ist er im Jahr 2010. Das „Purgatorio“ ist nicht einfach das Fegefeuer in der katholischen Tradition. Stattdessen entführt der Film in eine Welt, in der die Grenze zwischen der physischen Realität und dem Reich der Geister durchlässig wird. In eine Welt, in der, nur zum Beispiel, alte Frauen die Namen ihrer Liebsten auf jahrhundertealte Totenköpfe einritzen. Vielleicht als eine Art der symbiotische Beziehung: Wir kümmern uns um eure Überreste, ihr helft uns dafür vom Jenseits aus.

Das Tolle an dem Film: Cioni geht es nicht darum, diese mysteriösen, durchaus morbide anmutenden, jedenfalls weit hinter alle christlichen Traditionen zurückreichenden Rituale bloßzustellen, sie abzutun als Überbleibsel vormoderner Lebensweisen. Sein Film erkundet den Friedhof nicht aus der scheinobjektiven Distanz des aufgeklärten Autorenfilmers, sondern er lässt sich – bis zu einem gewissen Grad – infizieren von den Mythen und Ritualen, die mit diesem Ort verbunden sind. Von den materiellen Spuren des Vergangenen, die auf irritierende Weise in die Gegenwart hineinragen. Auch der Film „In purgatorio“, vermutet eine weitere Texteinblendung, könnte von den unruhigen Seelen der Seuchenopfer in Auftrag gegeben worden sein.

Cioni, dem das Kino Babylon Mitte im Rahmen der Reihe „Cinema Aperitivo“ eine kleine dreiteilige Werkschau widmet, interessiert sich für all jene, die den ordentlichen Lauf der Dinge durcheinanderbringen: für die Toten, die Traumatisierten, die Marginalisierten. „Nous/Autres“, als ältester der drei Filme 2003 in Cionis Wahlheimat Brüssel entstanden, ist ein stilistisch eigenwilliger, mit fiktionalen Szenen durchsetzter Porträtfilm über ein altes jüdisches Ehepaar, das über Verfolgung, Vertreibung und Exil berichtet.

Der neueste Film des Programms entstand 2013 in Cionis derzeitigem Wohnort Florenz: Per Ulisse nimmt seinen Ausgangspunkt im Ponterosso, einer therapeutischen Begegnungsstätte für Menschen, die aufgrund von Drogenerfahrungen, Krankheiten oder anderen Schicksalsschlägen aus der Gesellschaft herausgefallen sind und nun wieder Anschluss suchen. Wie der Titel andeutet, bringt der Regisseur diese zerrissenen Lebensläufe in Verbindung mit der Odysseus-Sage, dieser Geschichte eines Gezeichneten, der nach langen Jahren der Abwesenheit und der Kämpfe mit inneren wie äußeren Dämonen wieder zu seiner alten Familie, dem alten Leben zurückkehren möchte. Einfach ist das nicht: Eine Frau erzählt, dass sie sich fühlt wie ein Pfeil, der auf einmal mitten in der Luft stecken geblieben ist, nicht mehr weiterfliegen kann.

Bei allen wilden, diverse Jahrhunderte und Realitätsebenen überbrückenden Gedankensprüngen, die es unternimmt, ist Cionis Kino demütig gegenüber den Menschen, von denen es berichtet. Sein Kino ist das des Gesprächs, der Anekdote, der Erinnerungsrede. Die Menschen, die er filmt, blicken zumeist geradeaus in die Kamera, teilen sich freimütig mit. In Per Ulisse beginnen sie gar zu singen, zu tanzen, Theater zu spielen, werden fast zu Ko-Regisseuren. Cioni selbst unterbricht sie nicht, fragt selten nach, und wenn, dann nur vorsichtig, tastend. Belehrende Voice-over-Kommentare gibt es überhaupt keine, die erwähnten Texteinblendungen sind reflexiver Natur: Wer bin ich selbst, der ich mir anmaße, die Kamera auf andere Menschen zu richten.

■ Giovanni Cioni: Cinema Aperitivo, Kino Babylon Mitte, 21.–23. 9., Infos: www.babylonberlin.de