: Hier bleibt das Smartphone auch mal aus
60 JAHRE AGB In der Bücherei am Blücherplatz geht es schon lange nicht mehr allein um Bücher und das Lesen. Manche suchen hier auch einfach nur die Ruhe
Blücherplatz 1, Kreuzberg, ist auch eine gute Adresse für Zeitungsleser. Dort im Salon der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) findet sich ein breites Sortiment an internationaler Presse. Das genutzt wird. Bereits am frühen Morgen sind die Ledersessel im Salon von den Zeitungslesern besetzt.
Die AGB am Halleschen Tor ist längst kein Ort mehr, in dem es nur um Bücher geht. Viele Besucher haben ihren Laptop dabei oder sitzen an einem der Computerplätze. Datenbanken, Onlinenachrichten und soziale Netzwerke bekommen ebenso ihre Aufmerksamkeit wie das Angebot an Fachliteratur, Notenbücher und Belletristik in der AGB. Das Publikum ist bunt wie der Bezirk, alle Altersklassen sind vertreten.
Susanne, 49, betritt den lang gebogenen Lesesaal auf dem Weg zu einem der begehrten Arbeitsplätze dort. „Ich komme gern hierher. Für mich ist die AGB mehr als nur eine Bibliothek. Sie ist ein Multikulti-Zentrum“, sagt sie. Im Haus gibt es die Kinder- und Jugendbibliothek, das Kernstück aber bildet der in pastellfarbenen Tönen gehaltene Lesesaal. Er vereint Arbeitsplätze und Bücherregale mit viel Licht, das durch die großen Fensterfassaden dringt.
Wie sich die Atmosphäre des Hauses über die Jahre verändert hat, weiß ein Philosophieprofessor von der Freien Universität, der seit zwanzig Jahren wöchentlich in der AGB einen der Arbeitsplätze nutzt. „Früher war es gemütlicher, aber auch sehr chaotisch“, sagt er. „Aber das hängt ja auch zusammen. Heute ist es hier technischer, dafür strukturierter. Man kann konzentriert arbeiten.“ Jede Woche schaue er in etwa hundert Bücher. Hier steht jede Menge Fachliteratur für seine Recherchen zur Verfügung, die es in anderen Bibliotheken nicht gibt. „Es ist ruhiger geworden. Früher waren hier noch Abiturientengruppen, die meist sehr laut waren. Die gibt es heute nicht mehr“, sagt der Professor.
Bibliothek auch klassisch
Schüler kommen aber schon weiterhin in die AGB. Ein paar Reihen hinter dem Professor sitzt der 17-jährige Nana. „Die AGB ist ein Ort der Ruhe. Hier kann ich für meine Abschlussprüfungen lernen, die im nächsten Jahr anstehen. Zu Hause bin ich zu sehr von Computer und Fernseher abgelenkt. Hier schalte ich auch mein Smartphone aus“, sagt der Kreuzberger Abiturient. Er nutzt die Bibliothek ganz im klassischen Sinn – mit Büchern, Stift und Schreibblock.
Hin und wieder wird es auch im Lesesaal lauter – wenn ein Handy klingelt oder eine Angestellte mit dem Bücherwagen den langen Gang entlangrattert. Eine Männerstimme vom Kopierservice hallt an endlosen Bücherreihen vorbei, bis sie verklingt. Doch das kann der Saal schlucken, die Arbeitsatmosphäre wird dadurch kaum gestört.
Die AGB am Kreuzberger Blücherplatz ist ein Ort der Vielfalt, jeder Besucher hat seine eigenen Vorstellungen, wie er ihn nutzt. Für die Mehrheit steht er für Ruhe und Konzentration. Gleichzeitig bietet das Haus Platz für sozialen Raum. Susanne erlebt die Bibliothek als sehr lebendig. Nun sitzt sie im Lesesaal neben den konzentrierten Gesichtern an einem der vielen Tische – ohne Buch, ohne Computer. „Wenn ich noch nicht nach Hause, nicht allein sein möchte“, sagt die 49-Jährige, „gehe ich gern hierher, um Leute zu beobachten.“
JACOB TROMMER