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Archiv-Artikel

Das gestresste Gemüse

Das Flora-Pendant zum Fauna-Knut ist der Spargel. Jede seiner Regungen wird kommentiert. Dieses Jahr ist er ein Frühchen. Aber nicht nur er, die ganze Vegetation ist zu früh – und leidet darunter

VON WALTRAUD SCHWAB

Spargel ist heilig. Zumindest für die Feinschmecker in Berlin und Brandenburg. Nur so ist die Erregung zu verstehen, die die Meldung, das phallisch geformte Edelgemüse in der Region sei zwei Wochen zu früh dran, bei schlagzeilensensiblen Gourmets auslöst. Eigentlich begänne die Saison in der zweiten Aprilhälfte, es gab ihn jedoch schon zu Ostern. Traditionell endet sie am 24. Juni, dem Geburtstag Johannes des Täufers. Ob wenigstens das Ende so sein wird wie geplant, muss sich noch zeigen. Denn der Klimawandel hält sich nicht an Traditionen.

Nicht nur der Spargel, die ganze Vegetation ist zwei Wochen zu früh dran, sagt Albert-Dieter Stevens, wissenschaftlicher Leiter des Botanischen Gartens. Dass sie zu früh ist, wäre vielleicht noch zu verkraften. Was die Pflanzen hier aber in Stress versetzt, ist die derzeit starke Sonnenstrahlung, kombiniert mit Wassermangel und hohen Temperaturen. Pflanzen reagieren auf die Sonnenstände. Diese sind im Frühjahr eigentlich mit moderater Wärme und feuchten Böden verbunden. Darauf haben sich die Pflanzen im Laufe der Evolution eingestellt. „Dieses Zusammenspiel zwischen Lichtmenge, Wasserstand und Temperatur passt jedoch nicht mehr“, erklärt der Biologe.

Stevens hat die Zahlen dazu: Normal für diese Jahreszeit wäre eine Energieleistung der Sonne von 350 Watt pro Quadratmeter. Aktuell sind es aber 500 Watt. Verbunden mit der Trockenheit drehen die Pflanzen durch. Einige beginnen, wie im Hochsommer, die Spaltöffnungen an ihren Blättern zu schließen, um kein Wasser mehr zu verdunsten. Damit aber stoppen sie ihr Wachstum – darauf sind sie im Frühjahr jedoch programmiert.

Ganz schutzlos sind die Pflanzen indes nicht. Derzeit kann man beobachten, sagt Stevens, dass sich viele junge Blättchen an Bäumen und Sträuchern rötlich färbten. Das seien Schutzpigmente, die schädliche Strahlung absorbieren. „Wir brauchen mehr schüchterne Pflanzen“, meint der Biologe. Solche also, die rot werden.

Schlecht sehe es jedoch für jene Pflanzen aus, die nicht schnell genug auf die veränderten klimatischen Bedingungen reagieren können. Das trifft vor allem die älteren Bäume und Sträucher. Denn der Klimawandel bringt zudem extreme Temperaturschwankungen mit sich. Auch für Berlin rücke in der nächsten Woche ein Kälteeinbruch wieder in den Bereich des Möglichen, sagt Stevens. All das summiere sich zu physiologischem Stress. „Die Pflanzen zeigen geringere Wachstumsraten und sind anfälliger für Pilze und Schädlinge.“

Während man in Berlin noch über die Folgen des veränderten Klimas sinniert, sagen englische Medien ihren LeserInnen schon, wie sie zu „Klimawandel-Gärtnern“ werden. Da wird geraten, Bäume zu pflanzen, die Trockenheit vertragen, Gemüse zu kultivieren, das frostunempfindlich ist, und Pflanzen, die früh treiben, vor der Vegetationsphase kurz zu schneiden, um ihre Blattoberfläche zu verkleinern. Dann wachsen sie langsamer, aber auch mit weniger Stress.

Zurück zum Spargel. Der ist ein hochkultiviertes Gemüse, ein Wirtschaftsfaktor, dem mit Technik zu Leibe gerückt wird, egal wie das Wetter ist. Bewässern – kein Problem. Wärme regulieren – auch nicht. Dunkle Folie drüber macht’s wärmer, weiße kälter. Reicht das nicht, werden die Felder beheizt. Denn eins ist sicher: Spargel, Spargel – geht über alles.