: Der Hirsch verlässt das Gelände
Im Alter von 84 Jahren ist der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut am Mittwoch gestorben. Sein Roman „Schlachthof 5“ handelt von der Bombardierung Dresdens, wurde aber während des Vietnamkriegs zum Kultbuch der Gegenkultur
VON FALKO HENNIG
Von 1986 bis 1988 lernte ich Schriftsetzer in der Druckerei des MfNV, das war das Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR. Die Druckerei befand sich in der Schnellerstraße in Schöneweide, wo sich heute ein riesiger Baumarkt erhebt. Ausgerechnet dort begegnete ich zum ersten Mal Kurt Vonnegut. Ich war als Mitarbeiter der Staatsmacht nämlich privilegiert durch eine besondere Zeitung, die wir zu lesen bekamen, den Vorankündigungs-Dienst, für die volkseigenen Buchhandlungen gedacht, in der alle Bücher aufgeführt waren, die demnächst erscheinen würden. Oft genug kam kaum etwas davon in die Buchhandlungen, weil begehrte Bücher schon vorher vergeben wurden an Leute wie mich. Wir durften uns nämlich bestellen, was uns interessierte, es gab ein Sonderkontingent für die Polygrafen der Landesverteidigung.
Jeden Morgen hetzte ich durch die riesige Druckerei und dann bekam ich es. Es war leider keiner seiner 19 Romane, erst recht nicht sein bekanntester „Slaughterhouse-Five“, auf Deutsch „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“. Darin geht es um seine Erlebnisse als Kriegsgefangener in Deutschland, genauer in Dresden in einem früheren Schlachthof. Außerirdische vom Planeten Tralfamadore erscheinen und entführen den Protagonisten auf eine Zeitreise. Auch keines seiner Theaterstücke oder Essays fiel mir in die Hände, sondern nur „ad libitum“, eine Anthologie mit Texten von Djuna Barnes, Umberto Eco, Hans Magnus Enzensberger, Patricia Highsmith und schließlich Kurt Vonnegut.
Die Kurzgeschichte „Der Hirsch auf dem Fabrikgelände“ war darin abgedruckt, in der ein junger Mann ausgerechnet in einer großen Rüstungsfabrik als Werbetexter anheuern will und als ersten Auftrag über einen Hirsch berichten soll, der sich auf das Gelände verirrt hat. Man verspricht sich landesweite Aufmerksamkeit von einer solchen Story, das Tier soll noch lebend fotografiert, dann erlegt und als Wildbret beim Picknick für langjährige Mitarbeiter serviert werden. Doch der hoffnungsvolle Neuling zerstört sich alle Chancen auf Betriebspension und Aufstieg – er lässt den Hirsch entkommen.
Vonneguts Eltern waren der Architekt Kurt Vonnegut, Sr., und Edith Vonnegut. Beide Eltern entstammen Familien, die ursprünglich aus Deutschland in die USA eingewandert sind. Vonnegut besuchte von 1936 bis 1940 die Shortridge High School in Indianapolis. Als Journalist und Autor arbeitete er dabei für eine Schülerzeitung. Er studierte Biochemie an der Cornell University und arbeitete in dieser Zeit als Redakteur und Kolumnist für die College-Zeitung Cornell Sun. Anfang 1943 meldete er sich als Freiwilliger bei der U.S. Army und wurde im Dezember 1944 mit der 106. Infanteriedivision als Späher während der Ardennenoffensive eingesetzt. Die unerfahrenen Einheiten der 106. – das Durchschnittsalter betrug 22 Jahre – wurden teilweise aufgerieben. Am 22. Dezember geriet Vonnegut in deutsche Kriegsgefangenschaft. Als Kriegsgefangener erlebte er während der Luftangriffe auf Dresden die Zerstörung der Stadt durch alliierte Bomber. Aus diesem für ihn prägendsten Erlebnis entwickelte er seinen bekanntesten Roman.
Nach dem Krieg studierte er zunächst Anthropologie an der Universität Chicago, bevor er als Science-Fiction-Autor Erfolge erzielte.
Ich stand 1987 in den Pausen an der Spree und rauchte, der Fluss führte in Richtung Norden nach Westberlin. Niemals würde sich ein Hirsch hierher verirren, bewaffnete Wachposten waren ringsum, Uniformen, mein oberster Dienstherr war Armeegeneral Heinz Kessler. Ich grübelte, wie ich dieser Druckerei entkommen konnte, aber weder Wildtiere noch Außerirdische schienen sich um mich zu scheren. Welche Figur autobiografischer angelegt ist, der junge Journalist, der in einer Fabrik anheuert, oder der Hirsch, der sich dorthin verirrt hat, muss offen bleiben. Tatsache ist, dass sich Kurt Vonnegut in dieser Welt nicht sehr wohlfühlte, er litt unter Depressionen und einen Selbstmordversuch 1984 durch Tabletten und Alkohol überlebte er knapp.
Nun hat der alte Hirsch das Betriebsgelände endgültig verlassen, der 84-Jährig starb am Mittwoch an den Hirnverletzungen, die er sich kürzlich bei einem Sturz in seinem Haus in Manhattan zugezogen hatte. Der religiöse Skeptiker, Bush-Kritiker, humanistische Freidenker und Sozialist hinterlässt seine Frau, die Fotografin Jill Krementz, und sieben Kinder.