Aufbruch ins Ungewisse

80 Jahre nach dem wilden Streik in der Maschinenfabrik Nagel & Kaemp, in deren Räumen sich heute die Kulturfabrik Kampnagel befindet, fordert die Radiokunst-Gruppe „Ligna“ die Zuschauer erneut auf, die Fabrik zu verlassen

Premiere: Di, 17. 4., 20.15 Uhr, Kampnagel [p1] und auf FSK, 93,0 MHz; weitere Termine: 24. 4., 27. 4., 30. 4., 1. 5., 3. 5., 5. 5., je 20.15 Uhr

Die „Arbeitervorstadt“ Barmbek im Jahr 1929. In der Maschinenfabrik Nagel und Kaemp herrschen ohnehin harte Arbeitsbedingungen, doch nun wird zudem die Produktion „rationalisiert“: eine große Anzahl der ArbeiterInnen soll verzichtbar gemacht werden. Begründet werden die Entlassungen mit demselben Argument wie heute: Notwendig seien sie, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Die Direktoren erhöhen den Akkord, der alte SPD-nahe Betriebsrat handelt nicht und der neue revolutionäre – auf den sich alle Hoffnungen der ArbeiterInnen richten – wird sofort wieder entlassen. Es kommt zum Ausstand, die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik und wollen nicht zurückkehren, ehe sich grundlegend etwas ändert. Zwei Wochen steht die Fabrik still, bis Betriebsführung und Gewerkschaft es unter Polizeischutz schaffen, Streikbrecher einzuschleusen. Einer der Arbeiter wird erschossen, der Streik scheitert und zwei Drittel der Belegschaft werden entlassen.

Einer, der zu dieser Zeit bei Nagel und Kaemp arbeitet, ist der „Arbeiterschriftsteller“ Willi Bredel, der sich in seinem ersten Roman „Maschinenfabrik N&K“ mit den Geschehnissen auseinander setzt – eines der wenigen Zeugnisse des wütenden Protests gegen die vermeintliche Naturwüchsigkeit des Kapitalismus, eines Protestes mit einer konkreten Utopie: Mit dem Aufstand der Produktivkräfte gegen die Produktionsverhältnisse beginnt die tatsächliche Aufhebung der Klassenherrschaft: der Kommunismus. Die Unterbrechung der Produktion öffnet den Raum, in dem eine andere Produktionsweise denkbar wird. Dabei ist Bredels Roman ein Versuch, überhaupt eine Sprache zu finden für die proletarische Erfahrung, für die es in der bürgerlichen Öffentlichkeit keinen Platz gibt.

Heute wird in dem Gebäude der ehemaligen Maschinenfabrik Kultur produziert. Nur der neue Name Kampnagel und ein paar Kräne auf dem Gelände erinnern noch an den Terror des Fabrikalltags, in den Hallen hat es sich längst ein bürgerliches Publikum gemütlich gemacht und konsumiert, was die Kämpfe der letzten hundert Jahre der Lohnarbeit entrissen haben: die Freizeit.

Vor diesem Hintergrund fordert die Radiokunst-Gruppe „Ligna“ – bekannt vor allem für ihre Radioballets – fast 80 Jahre nach dem wilden Streik in der Maschinenfabrik das Theaterpublikum erneut auf, die Fabrik zu verlassen und sich auf die „Odyssee N&K“ zu begeben. In dem performativen Hörspiel, das zeitgleich vom Freien Sender Kombinat übertragen wird, werden die ZuschauerInnen zu RadiohörerInnen – und zu Akteuren der Geschichte. Weg von der Bühne führt die Odyssee in die unbekannten Gefilde außerhalb des Theaters: eine Reise in die Geschichte der Gegenwart, in eine Welt voller Abenteuer und Gefahren. Gerade weil sich Bredels „Maschinenfabrik N&K“ heute wie das letzte Überbleibsel einer verblassten Hoffung liest, bietet er für Ligna ein ausgezeichnetes Material, um nicht nur an verdrängte Geschichte zu erinnern. Zugleich lassen sich die Gründe für das Scheitern der Hoffnung untersuchen.

Dabei ist „Odyssee N&K“ vor allem eine kollektive Produktion: Assoziiert über das Radio begehren die HörerInnen gegen die Trennungen und Repräsentationen kultureller Produktion auf – Trennungen, in denen sich die diejenigen des Arbeitsalltags widerspiegeln. Auf diese Weise, so die Hoffnung, lässt sich vielleicht auch wiederentdecken, was schon 1929 die zentrale Entdeckung war: Die Fähigkeit, kollektiv zu handeln.ROBERT MATTHIES