: Der Praxis immer ein Stück voraus
DIRK BAECKER, geb. 1955, ist Schüler von Niklas Luhmann und hat seit 2007 den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University Friedrichshafen inne.
VON DIRK BAECKER
Die taz hat Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! Ein Flaggschiff der Gegenöffentlichkeit, eine Speerspitze der Aufklärung, ein kritisches Bewusstsein der Gegenwart, ein unerschrockener Beobachter der Verhältnisse, wie sie sind und meist auch gleich herrschen, ist die taz dennoch in die Jahre gekommen und muss befürchten, zusammen mit einer Leserschaft alt und grau zu werden, die ebenfalls nicht mehr genau weiß, was die Welt an ihr hat. Denn irgendwie, das liest man auch in der taz, hat sich die Welt geändert. Sie ist unruhiger, vielfältiger und ihrer selbst unsicherer geworden, sodass sich die alten Freundschaften und Gegnerschaften schneller in sentimentale Erinnerungen verwandeln, als einem lieb sein kann. Und zugleich stellen sich immer wieder dieselben Probleme ökonomischer Macht, politischen Auftrumpfens, wissenschaftlichen Übermuts, religiösen Starrsinns und künstlerischer Arroganz, als hätte die Gesellschaft sich dagegen verschworen, die Aufklärung, mit oder ohne ihre Dialektik, beim Wort zu nehmen. Man wünscht sich die Klarheit der Diagnose, die Schärfe der Kritik, den Witz der Beobachtung und die Brillanz der Formulierung, die zum besten Erbe eines Zeitalters gehören, das an die Vernunft noch glaubte, und weiß doch, dass in den Knoten der Verhältnisse und angesichts der blinden Flecken jeder Beobachtung andere Bewegungen, andere Einsätze und andere Wendungen erforderlich sind als die, die die Vernunft diktiert.
Die Vernunft, das haben wir von Kant gelernt, ist das auf die Spitze getriebene Vermögen, sich selbst nicht über den Weg zu trauen. Zahllos sind die Versuche, diese Einsicht zu unterbieten, indem die Ordnung der Dinge, der Lauf der Zeit und der Kampf der Klassen als verlässliche Banken beschworen wurden, auf die man seine Erwartungen einzahlen und mit Zinsen wieder zurückerhalten konnte. Und ebenso zahllos sind die schleichenden Inflationen, die Konjunktureinbrüche, die schwarzen Freitage, an denen die Wertkorrekturen vorgenommen werden mussten, die uns alle zurückschickten zu einem Ausgangspunkt, der in alter Frische nie zu haben ist.
Die taz ist die Zeitung, in der man all dies auf das Genaueste mitverfolgen kann. Auf ihre Aufmerksamkeit, ihre Wachheit, ihre Sprache und ihren Witz ist fast immer Verlass, bis hin zum eher schmerzhaften Punkt, dass man an ihr die Ressourcenknappheit beobachten kann, mit der die Gesellschaft sich daran hindert, ihre Einsichten in die eigene Dynamik allzu mächtig werden zu lassen. So sieht man jedem Artikel an, unter welchem Druck er entstand und wie er diese Not zu einer Tugend macht, die den Versuchungen der Zuspitzung, der drastischen Behauptung und der Selbstinszenierung des Autors meist widersteht und stattdessen die Offenheit, die Unklarheit, die Unentschiedenheit der Verhältnisse selbst zum Argument werden lässt. David tänzelt, während Goliath murrt.
Nach meinem Eindruck lebt die taz davon, dass sie sich in ihrer eigenen Praxis immer ein Stück voraus ist. Ein Projekt, das auf Anfänge setzt und Entwicklungen nachzeichnet oder Gefühlslagen betont, die ihren Charme daraus gewinnen, dass sie daran glauben, dass die Welt praktisch verbessert werden kann, ohne auch nur eine Minute darauf zu bestehen, dafür auch die passende Theorie zu haben.
An der taz kann man studieren, was aus der Presse geworden ist, seit sie das Programm der französischen Aufklärung, angelsächsisch durch Ironie geläutert und germanisch durch Romantik vertieft, in eine massenmediale Praxis der Öffentlichkeit umgesetzt hat. Berichterstattung aus aller Welt, Filter der Vernunft, Ort der Kritik, Pflege des Skandals, Propaganda der richtigen Meinung und nach wie vor, mit Hegel, Frühstückslektüre, die das morgendliche Gebet ersetzt: alle Funktionen erfüllt eine Tageszeitung, die diesen Namen verdient.
Aber schauen wir uns das aus gegebenem Anlass noch einmal etwas genauer an. Klar, zunächst einmal ist eine Tageszeitung nichts anderes als das Medium, das es erlaubt, die Möglichkeiten aufzugreifen, die der Buchdruck geschaffen hat. Tagtäglich erscheinen Nachrichten aus aller Welt, aus einer Gesellschaft, in der laufend das Unvertraute geschieht, das in den Augen der Leser nach Interpretation, Verstärkung und Zähmung verlangt. Der Tag wäre nicht, was er in der modernen Gesellschaft geworden ist, wenn er nicht im Medium der Nachrichten eingebettet wäre in die unruhige und ebenso zähe wie dynamische Heterogenität der Welt.
Und dann der Leitartikel. Was wäre eine Tageszeitung ohne den Leitartikel? Der Leitartikel ist die Umsetzung von Immanuel Kants Traum in die Praxis der Gesellschaft. Kant wusste ja noch sehr genau, was er von der Aufklärung erwartete. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Kant kann in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von 1783 diesen Wahlspruch nur deswegen zum Motto der Aufklärung erklären, weil er diesem Gebrauch des eigenen Verstandes sogleich einen, nein: drei, Riegel vorschiebt. Erschrocken ob des Umstands, dass seit der Einführung des Buchdrucks jedermann nicht nur die Bibel lesen kann, sondern Sachbücher, Romane, Gedichte, Hetzschriften, Pamphlete und Flugblätter, und anschließend mit Meinungen zu Sachverhalten aufwartet, von denen er schlechterdings nichts verstehen kann, stellt er drei Forderungen auf: Erstens mögen sich bitte nur die Gelehrten äußern – und alle anderen mögen einsehen, nur Laien zu sein. Zweitens mögen sich die Gelehrten bitte öffentlich äußern – damit andere Gelehrte ihnen widersprechen können. Und drittens möge man bitte nicht erwarten, dass sich die Verhältnisse sogleich entsprechend den Gedanken ändern, die sich die Gelehrten über sie machen – denn die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Man hätte ja schon vom Tonfall des Titels dieser Schrift Kants gewarnt sein können. Wer die Beantwortung einer Frage verspricht, legt entsprechend geringes Gewicht darauf, sie als Frage überhaupt erst einmal zu stellen. Das ist wie mit den Problemen, deren Lösung man verspricht: Ein gelöstes Problem ist kein Problem mehr, und eine beantwortete Frage ist keine Frage mehr. Die taz dokumentiert diesen Sachverhalt auf der letzten Seite ihres Magazins in der Rubrik „Letzte Fragen“. Dort kann man jeden Samstag studieren, dass die besten Antworten die Frage nicht wirklich erledigen. Vielleicht sollte man so auch den Text Kants noch einmal lesen: Was bleibt von der Frage übrig, wenn man annimmt, dass Kant sie nicht wirklich beantwortet, sondern mit seinen Antworten erst entfaltet?
Man stößt dann darauf, dass die Aufklärung erst in zweiter Linie die Hoffnung auf die Vernunft der Verhältnisse in die Welt setzte. In erster Linie war die Aufklärung die Installation eines Filters, mit dem die allzu vielen Meinungen der allzu vielen Privatsubjekte, die sich an die Ordnung der sozialen Schichtung nicht mehr hielten, sondern kreuz und quer lasen und kreuz und quer kommentierten, auf ihre Tauglichkeit zu einer allgemein vertretbaren Meinung hin geprüft wurden. In seiner „Kritik der Urteilskraft“ hatte Kant das mit der Figur des „Gemeinsinns“, der das Schöne und Erhabene will, schon einmal am viel zu individuellen und viel zu unkontrollierbaren Geschmack dieser Subjekte durchexerziert. Es ist ja schön und gut, wenn jedes Individuum seinen eigenen Geschmack hat. Und es braucht diesen Geschmack ja auch, einschließlich der Schulung dieses Geschmacks durch das, was Kant die Humaniora und was wir die humanities beziehungsweise Humanwissenschaften nennen. Aber ohne diese Schulung, die auf den Gemeinsinn zielt, möge jedes dieser Subjekte seinen Geschmack doch bitte für sich behalten, um nicht unangenehm aufzufallen. Das wird seither zur Ordnung der Individualisierung in der modernen Gesellschaft: Pflege deinen Geschmack, doch behalte ihn für dich, beziehungsweise unterwirf ihn den Regeln eines guten Geschmacks; und pflege deine Meinung, doch behalte sie für dich, solange du nicht angeben kannst, warum sich auch andere an sie halten sollten. Es ist klar, dass diese Direktiven Widerspruch nach sich zogen. Der Marquis de Sade führte vor, dass man einen guten Geschmack auch an anderem schulen kann als am Schönen und Erhabenen, nämlich am Bösen und Lustvollen. Und Charles Baudelaire und viele andere gewannen das Genie des Künstlers daraus, Meinungen zu entwickeln, die umso mehr überzeugen, je weniger sie von anderen geteilt werden.
Deswegen konnte die Aufklärung als Philosophie der Vernunft nicht gehalten werden, sondern musste umgestellt werden auf die Praxis einer Tageszeitung. Im Zyklus der Moden und immer nur als Modus desselben intoniert und inkantiert die Tageszeitung die Meinung und den Geschmack des Tages, nicht mehr darauf vertrauend, dass am Ende die Vernunft und das Schöne siegen, sondern nur noch damit rechnend, dass morgen schon eine andere Meinung und ein anderer Geschmack genauso wichtig und richtig sind. Nicht die Vernunft, die Zeit diktiert die Verhältnisse. Es erging der Aufklärung ungefähr so wie dem sprichwörtlichen Designer, der den idealen Stuhl entwerfen will und feststellen muss, dass der Mensch so oder so alle zehn Minuten seine Sitzhaltung ändert. Würde er doch nur mal stillsitzen!
Woran hält man sich, wenn man feststellt, dass man sich auf nichts mehr verlassen kann? Auch auf diese Frage liefert die Geschichte der Tageszeitung jede denkbare Antwort, und auch mit dieser Frage setzt die taz sich tagtäglich auseinander. Man hält sich an die Kritik, an den Skandal und an die Propaganda. Die Kritik hat den Vorteil, dass sie immer recht hat. Sie prüft die Welt, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Der destruktive Charakter“ 1931 festgestellt hat, und schafft Platz, freie Luft zum Atmen, indem sie sie insgesamt verwirft. „Der destruktive Charakter“, so schreibt Benjamin, „ist jung und heiter.“ Und erst recht, so fährt er fort, gilt dies, wenn man sieht, „wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft.“ Alles für den leeren Platz, gleichgültig, was danach passiert!
Auch dieses große Prinzip einer ebenso heilsamen wie verantwortungslosen Gesellschaftskritik findet in der Tagespresse seine Übersetzung. An die Stelle der Kritik tritt der Skandal. Der Skandal schreckt vor dem leeren Platz zurück und setzt das Kritisierte selber an die Stelle dessen, was die Kritik gerade noch zu opfern bereit gewesen wäre. Mit jedem Skandal wird dokumentiert, dass es immer so weitergeht, wie es immer schon gegangen ist. Der Skandal bestätigt die Verhältnisse, über die er sich aufregt.
In der taz kann man studieren, wie man es schafft, dieser Skandalfalle zu entgehen. Aber auch um das Heilmittel gegen das Prinzip des Skandals, auf das andere Tageszeitungen setzen, macht die taz einen großen Bogen. Wer den Skandal nicht will, setzt ganz oft und leicht stattdessen auf die Propaganda, unterfüttert von welcher Ideologie auch immer. Die Propaganda ist das Prinzip, das es erlaubt, immer wieder neu Nachrichten in die Welt zu setzen, die behaupten, dass es so gut ist, wie es immer schon war, und immer noch ein bisschen besser wird, gleichgültig, mit welchen widersprechenden Daten und Fakten man es zu tun bekommt. Genauso wie die Kritik und der Skandal lebt auch die Propaganda nicht davon, dass sie recht hat, sondern davon, dass sie recht gibt. Sie verschafft einem Gemüt seine tägliche Beruhigung, das andernfalls Mühe hätte, den Tag zu überstehen. Und auch dies ist nicht ohne seine empirische Klugheit, können doch sowohl der Skandal als auch die Propaganda mit wechselnden Verhältnissen vertraut gemacht werden, ohne dass das Prinzip der Erregung beziehungsweise Beruhigung ausgewechselt werden müsste. So lernt man gleichsam hinter dem eigenen Rücken und bleibt doch unbelehrbar. Die taz hat diese Möglichkeiten der Übersetzung der Aufklärung in ihr tägliches Fragment durchschaut und unterläuft sie durch eine Praxis der Genauigkeit und des Witzes, der vielleicht die eigene Philosophie und Reflexion fehlen, aber mit Sicherheit nicht die Überzeugung und die Einfallskraft.
Die taz überbietet die Dialektik der Aufklärung, die Einsicht in die Verhältnisse, die sich aus ihrer Kritik ernähren, durch eine Dialektik der Dialektik, die in diesen Verhältnissen neuen Platz schafft, indem sie Praktiken offenlegt, die sich Entscheidungen verdanken, die auch anders hätten getroffen werden können. In dieser Dialektik der Dialektik überlebt eine Aufklärung, die es im Nachhinein lernt, dass vor der Moderne auch die Tradition ihr Recht hatte. Und in dieser Dialektik der Dialektik überlebt eine Kritik, die den Kritisierten nicht vom Platz räumt, sondern ihm zur Seite springt, weil sie erkennt, dass auch er seine Probleme hat, die nur nach einem anderen Kontext rufen, um auch einmal anders gelöst zu werden. Damit sind die Möglichkeit und die Notwendigkeit, Position zu beziehen, keinen Moment bestritten. Aber Positionen sind Gesprächsangebote, und für Gespräche gibt es viele Foren, den Streit und die Forschung ebenso wie die Parodie, die Beratung und den Gesang.
„Making things public“, wie Bruno Latour formuliert, ist ein Wahlspruch, mit dem sich die taz von den großen Visionen der Aufklärung, der Öffentlichkeit und der Gegenöffentlichkeit verabschiedet und stattdessen darauf setzt, dass nichts zustande kommt und nichts sich halten kann, was nicht sein eigenes Publikum hat. Das Publikum konstituiert, was ein Ding sein kann. Und diese Konstitution kann man beschreiben, so wie ein Hacker sich einklinkt in den Code eines Programms. Wer sich auf die Dinge fixiert, verfängt sich in den Illusionen der Moderne. Wer damit beginnt, ihr Publikum zu beobachten, erfährt etwas über die Spielräume dieser Welt, auch wenn diese zuweilen wahrhaftig nicht sehr groß sind.
Bruno Latour, Jahrgang 1947, ist ein französischer Soziologe und Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Wissenschafts- und Techniksoziologie, er ist einer der Begründer der Akteur-Netzwerk-Theorie. 1982 wurde er Professor für Soziologie an der École Nationale Supérieure des Mines in Paris.
Die Dialektik entstand aus einer Methode der Diskussion, sozusagen als Diskurstheorie des Altertums, wonach ein Redner eine These, eine Position, einbringt, der von einem anderen Redner durch eine Antithese, eine Negation, widersprochen wird. In der Deutlichkeit der Entgegensetzung erst – so die Theorie – lässt sich die Beziehung herausarbeiten, die beide Positionen haben und die sie letztlich weiterbringt: die Synthese.
Marquis de Sade hieß eigentlich Donatien Alphonse François und wurde am 2. Juni 1740 in Paris geboren; er war französischer Adliger und Autor einer Reihe teils pornografischer, teils philosophischer Bücher. Er wurde bekannt durch die von ihm beschriebenen Sexualfantasien und die von ihm verursachten gesellschaftlichen Skandale. Von seinem Namen leitet sich der Begriff Sadismus ab. Er starb 1814 in der Irrenanstalt Charenton-le-Pont.
Charles-Pierre Baudelaire, im April 1821 in Paris geboren, gilt als einer der größten französischen Lyriker überhaupt und als einer der wichtigsten Wegbereiter der europäischen literarischen Moderne.
Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724 in Königsberg, ist einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit. Sein Werk „Kritik der reinen Vernunft“ kennzeichnet den zentralen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und den Beginn der modernen Philosophie. Er schuf eine neue, umfassende Perspektive in der Philosophie, die die Diskussion bis ins 21. Jahrhundert maßgeblich beeinflusste.