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Archiv-Artikel

Eine aberwitzige Zahl von Schlagschatten

NEUE SAMMLUNG Marc Barbey eröffnet mit einer „Hommage à Berlin, Hein Gorny, Adolph C. Byers, Friedrich Seidenstücker, Photographien 1945–1946“ seine Fotosammlung in der Steinstraße in Berlin Mitte

Überhaupt fällt ein experimenteller Zug des Projekts auf

VON BRIGITTE WERNEBURG

Denkbar größer könnte der Gegensatz zwischen dem, was hier über Berlin zu berichten ist, nicht sein. Wieder einmal darf sich die Stadt einer neuen privaten Kunstsammlung rühmen. In Mitte hat jetzt der IT-Spezialist Marc Barbey seine Fotosammlung eröffnet. Barbey wurde 1971 in Paris geboren und gehört nach seinem Umzug nach Berlin 2003 zu der immer größer werdenden Gemeinde von Ausländern, die vom kreativen Potenzial der Stadt angezogen werden. Die Ausstellung freilich, mit der seine Collection Regard an die Öffentlichkeit tritt, handelt vom kriegszerstörten Berlin des Jahres 1945; also einer Stadt, der eine großartige Zukunft vorauszusagen schwergefallen wäre.

Die Ausstellung lässt ein nie realisiertes, „In Memoriam“ betiteltes Buchprojekt wiedererstehen, für das sich ein deutscher und ein amerikanischer Fotograf, nämlich Hein Gorny (1904–1967) und Adolph C. Byers (1913–1974) zusammengetan hatten, um die zerstörte Stadt aus der Luft zu porträtieren. Hein Gorny war ein Fotograf der neuen Sachlichkeit, der in den 30er Jahren durch seine Tier- und Werbeaufnahmen bekannt geworden war. Dass ihm die Eröffnungsausstellung der Galerie Spectrum gewidmet war, der ersten Fotogalerie in Europa, 1972 von Heinrich Riebesehl, Peter Gauditz und Joachim Giesel in Hannover gegründet, belegt die Wertschätzung seines Werks. Adolph Carl Byers, der als Bildauswerter im Headquarter der US Army in Berlin tätig war, dürfte die Möglichkeit von Luftaufnahmen zu verdanken sein.

Neben diesen, durch ihre auffälligen Schlagschatten charakterisierten Luftaufnahmen sollten im Buch Fotografien einzelner, zerstörter Berliner Bauwerke – so legen es Vorkriegsaufnahmen, etwa des Shell-Hauses von Emil Fahrenkamp am Landwehrkanal, Hein Gornys Archiv nahe – den gleichen Motiven eines noch intakten Berlins gegenübergestellt werden. Das Konzept dieser Gegenüberstellung könnte erklären, weshalb der künstlerische Leiter der Collection Regard, Antonio Panetta, in Gornys Nachlass auch Aufnahmen des Berliner Fotografen Friedrich Seidenstücker fand.

Offenbar stand Gorny mit Seidenstücker in Kontakt und wollte mit dessen Bildern, wo notwendig, die eigenen Motive komplettieren. Interessant sind dabei Aufnahmen, die das gleiche Motiv zeigen wie etwa die Mitte der 1920er Jahre erbaute Ahmadiyya-Moschee in der Brienner Straße in Wilmersdorf. Während Seidenstücker das vom Architekten K.A. Hermann konzipierte Gebäude in leichter Untersicht, wegen der Türme aber in vertikal ausgerichteter Form fotografierte, wählt Gorny eine extreme Schrägsicht, die letztlich seinem neusachlichen Stil widerspricht und eher an die Fotografie des Neuen Sehens erinnert.

Überhaupt fällt ein experimenteller Zug des Projekts auf, besonders bei den Luftaufnahmen, die entgegen der üblichen Verfahrensweise nicht bei hohem Sonnenstand aufgenommen wurden, um die Schlagschatten zu vermeiden. Gorny und Byers überführen dagegen dank dieser Schatten ihre Aufnahmen aus dem Raum des rein Dokumentarischen in den des Ästhetisch-Pittoresken, in dem sich die Dramatik der Situation voll entfalten konnte, in einer Stadtaufsicht, die – aufgrund der Brach- und Ruinenflächen – eine nie zuvor und auch danach nie wieder gesehene, aberwitzige Vielzahl von Schlagschatten aufweist.

Nur wenige der 80 Silberelatine-Aufnahmen sind übrigens Abzüge in größerem Format, ansonsten dominieren an den Wänden der wohnlich eingerichteten Räume in der Steinstraße Kontaktabzüge im Format 9 mal 12 cm. Sie tragen entschieden zu dem Gefühl bei, sich in der Collection Regard mehr in einem veritablen, der Forschung verpflichteten Fotoarchiv zu befinden als nur in einer gut präsentierten Sammlung. Man ist gespannt, wie Marc Barbey seine weiteren Schätze deutscher Fotografen wie Lotte Jacobi, Heinrich Riebesehl oder Siegfried Lauterwasser vorstellen wird, auf die er sich besonders konzentriert.

■ Bis 9. Oktober, Collection Regard, Steinstraße 12, Fr. 14–18 Uhr, oder tel. Vereinbarung; Katalog (Verlag Collection Regard) mit einem Text von Enno Kaufhold, 49,90 Euro