Jüdische Gemeinde vor Spaltung

Der Streit zwischen alteingesessenen Juden und russischsprachigen Einwanderern eskaliert. Der Exvorsitzende Albert Meyer kritisiert „russischen Kulturverein“ – und will neue Gemeinde gründen

VON ULRICH SCHULTE

Die Jüdische Gemeinde Berlin steht vor der Spaltung. Prominente Mitglieder wie der frühere Vorsitzende Albert Meyer und der Historiker Julius H. Schoeps kündigten am Wochenende die Neugründung einer Gemeinde an. Die jetzige Führung betrachte die Gemeinde als „Wirtschaftsinteressenverband“, bei dem man sich bedienen könne. Zudem versuche sie, aus ihr einen „russischen Kulturverein“ zu machen, sagte Meyer.

Mit der Ankündigung eskaliert ein Streit um den Kurs der größten und wichtigsten jüdischen Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Er schwelt seit mehreren Jahren: Alteingesessene Juden fühlen sich zunehmend von russischsprachigen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion an den Rand gedrängt, welche nach Schätzungen inzwischen über drei Viertel der rund 12.000 Mitglieder stellen.

Wie unversöhnlich sich beide Seiten gegenüberstehen, zeigt der Tonfall der Auseinandersetzung: Es gehe nicht an, dass eine „Clique aus egoistischen Menschen mit zum Teil stalinistischen Methoden alle anderen verdrängen, die für die deutsche-jüdische Tradition eintreten“, wettert Meyer. Rund 350 Mitglieder hätten bereits Interesse an einer Neugründung signalisiert.

Rechtsanwalt Meyer, ein Vertreter der deutschen Juden, war im Jahr 2005 als Vorsitzender zurückgetreten – seither führt der promovierte Betriebswirt Gideon Joffe die Gemeinde. Er wies die Vorwürfe zurück. „Beschimpfungen“ seien fehl am Platze. Jeder, der Vorsitzender werden wolle, habe außer der Gründung einer neuen „Mini-Gemeinde“ auch die Möglichkeit, sich der im November anstehenden Vorstandswahl zu stellen, so Joffe.

Beim Zentralrat der Juden in Deutschland nimmt man die Ankündigung einer Neugründung „sehr ernst“. Der jetzige Vorstand habe es versäumt, ein tragfähiges Konzept für beide Gruppen zu entwickeln, sagte Generalsekretär Stephan J. Kramer. „Die Integration der russischsprachigen Neumitglieder ist sehr wichtig, aber die Bedürfnisse der Alteingesessenen dürfen nicht vernachlässigt werden.“ Diese habe der Vorstand „massiv ausgegrenzt“, was in den vergangenen Jahren zu großer Unzufriedenheit geführt habe, so Kramer. Dabei habe die Führung angesichts der „Leuchtturmfunktion“ der wichtigsten Gemeinde eine besondere Verantwortung.

Auch andere Gemeinden in Deutschland, etwa in Hamburg oder Stuttgart, kämpfen mit ähnlichen Konflikten. In Berlin hat sich die Zahl der Mitglieder seit Anfang der 90er-Jahre mehr als verdoppelt, etwa durch Einwanderer aus der Ukraine oder Weißrussland. Nach Darstellung von Schoeps, dem Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, hätten viele Zuwanderer „keine religiöse Bindung“. Sie nutzten die Gemeinde nur zur Pflege der eigenen Kultur. Auch die Einführung von Russisch als gleichberechtigte Sprache habe mit der deutsch-jüdischen Tradition nichts mehr zu tun. Schoeps war 2006 aus der Gemeinde ausgetreten.

Andreas Nachama, der Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, sieht die mögliche Spaltung gelassen. „Funktionierende Synagogen und ein vielfältiges jüdisches Leben sind wichtiger als die Zahl der Gemeinden.“ Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg habe es in Berlin eine ganze Reihe privater Betvereine gegeben. „Warten wir erst mal ab, ob es zur Neugründung kommt.“

Der neue Verband könnte nach Einschätzung des Zentralrats jedenfalls auf öffentliche Mittel hoffen. Die Unterstützung, die die Gemeinde vom Land Berlin erhält, ist laut Kramer per Staatsvertrag geregelt – der bliebe weiterhin gültig. „Der Senat kann die Altgemeinde aber verpflichten, Geld an die neue weiterzureichen.“ Die Höhe des Zuschusses hängt dann von der jeweiligen Mitgliederzahl ab.