Liebeshändel auf dem Gutshof

Die immer wunderlicher werdende Geschichte, die dem Oberstleutnant Reuss widerfuhr

Hatte sich Charlöttchen ein Opfer erspäht, so war dieses ausgeliefert

Vor einigen Wochen berichtete die Wahrheit aus den Kreisen der Gesellschaft (Die Wahrheit vom 29. September, 17. November und 15. Dezember 2006). Nun ist es der Redaktion gelungen, mehr in Erfahrung zu bringen über den umtriebigen Oberstleutnant Reuss und darüber, wie sich die äußerst wunderliche Geschichte seiner Liebeshändeleien jetzo fortsetzt.

„Bitte, so fahren Sie doch fort“, forderte der Intendanzrat Dr. Demetrius Weber den Generaldirektor Gretz auf. „Mich – und ich glaube auch im Namen des verehrten Herrn Notarius C. F. von Schiepenbeck sprechen zu dürfen –, uns also drängt es, zu erfahren, welch eine wunderliche Geschichte dem Oberstleutnant Reuss am vergangenen Dienstag denn nun widerfahren ist.“

Nach einem ausgiebigen gemeinsamen Frühstück auf der sonnenbeschienenen Terrasse, die das wunderschöne Haus des jungen Notarius C. F. von Schiepenbeck schmückte, hatten sich die Damen in den Park begeben, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen und solcherarts all den köstlichen Weißbroten, Konfitüren, Wachteleiern und Käsearrangements, die sie zu frühstücken sich die Freiheit genommen hatten, von vornherein jede Möglichkeit zu verwehren, auf den wohlgehüteten zierlichen Damenhüften freche Spuren zu hinterlassen.

Während also die Damen um die hübsche Teichanlage flanierten, hatten sich die Herren ihrerseits zur besseren Verdauung kostbare Zigarren angezündet und auch einem Tröpfchen Williams Christ nicht eben zögerlich zugestimmt. So vorbereitet und ausgerüstet waren die werten Herren nun so weit, Dinge zu besprechen, die keuschen Damenohren die Schamesröte in die mit glitzernden Steinen verzierten Läppchen getrieben hätten.

„Wie ich Ihnen, meine lieben Freunde, ja am Vorabend bereits berichtete“, so hob also nun der Generaldirektor zu sprechen an, „hatte sich die junge Frau Lindow, nachdem es dem Oberstleutnant Reuss nicht möglich gewesen war, pünktlich zu der heimlichen Verabredung mit derselben zu erscheinen, hatte die junge Frau Lindow sich also zu ihrer Freundin, der rundlichen Schneiderin Magdalena Hellmund zum Zwecke der urweiblichen Beschäftigung, die man mit den Begriffen Tratscherei und Klatscherei nur allzu richtig beschreiben kann, begeben und bei dieser Gelegenheit frech an der Türe lauschend einen Dialog aufgeschnappt zwischen besagter Schneiderin und dem Bürgermeister Nikolaus Hunsteger, der ganz offensichtlich aus Gründen, die ich wohl nicht eingehender beschreiben muss, bei der drallen Hellmund weilte, und diesem Dialog hat die unartige Lauscherin entnehmen müssen, dass ihr eigener Gatte, der brave Soldat Franz Lindow, sicher seinem hübschen Cousinchen Bettine sich unschicklich zu nähern gedachte. Wutentbrannt war Frau Lindow auf die Straße gestürmt und geradewegs in den stadtbekannten Schwerenöter, Möchtegernkünstler und Weiberheld Arthur Schickel gestolpert und hatte sofort beschlossen, den undurchsichtigen Schickel in die grausame Rache zu verwickeln, die sie ihrem Gatten angedeihen zu lassen gedachte.

Mit dem Arthur Schickel verhält es sich aber nun folgendermaßen, und gestatten Sie mir, meine werten Freunde, etwas abzuschweifen, denn die Beschreibung und Darstellung besagten Schickels ist durchaus einige Worte wert: Der Oberstleutnant Reuss und Arthur Schickel waren einander keineswegs unbekannt, aber von inniger Freundschaft, aufrichtigem Einanderzugetansein oder wechselseitiger Sympathie ließe sich wahrlich nicht reden, wenn man das Verhältnis dieser beiden grundverschiedenen Herren zu beschreiben sich die Mühe machen wollte. Der Anlass aber dieser offensichtlichen Abneigung, die der Tagedieb Schickel und der gestrenge Oberstleutnant gegeneinander hegten, gründete sich auf einen Vorfall, der sich rund zehn Jahre bevor die aufgebrachte Frau Lindow in den Schickel stolperte, zugetragen hatte. Damals hatte der Oberstleutnant ein durchaus ehrliches Interesse an einem anmutigen und gleichwohl katzenartigen Mädchen aus einer der südlichen Provinzen entwickelt, welches er im Verlaufe eines Manövers kennen zu ernen die zunächst große Freude hatte. Denn während sich die einfachen Soldaten von des Oberstleutnants Einheit auch nächtens mit Schlamm und zugigen Zelten zufriedenzugeben hatten, empfand es Oberstleutnant Reuss für sich selbst doch angemessener und bequemer, eines der geräumigen und wohlbeheizten Zimmer des Gutshofes zu beziehen, dessen Gutsherr der Vater des Kätzchens war, um das sich dieser kleine Exkurs, den Sie, liebe Freunde, mir freundlicherweise gestattet haben, drehen soll.

Charlotte von Troy lautete der wohlklingende Name des graziösen Geschöpfes, das sich im blühenden Alter von 19 Jahren seines Charmes und seiner Wirkung wohl bewusst war, aber auch den Geist und den Verstand besaß, Männer zu faszinieren und in ihren Bann zu ziehen, ohne jemals zu vertraulich oder zu inoffiziell zu werden, so dass – hatte sich das Charlöttchen einmal ein Opfer erspäht – so dass dieses Opfer also dem verspielten Kätzchen rettungslos ausgeliefert war, bis das Tierchen an einem neuen Spielzeug mehr Gefallen zu finden sich erlaubte. Und damals, vor etwa zehn Jahren, war es nun der Oberstleutnant, der sich beim allerersten Anblick der reizenden Charlotte innerhalb weniger Sekunden in eine hilflose Maus verwandelte.“

Die Herren Intendanzrat Dr. Demetrius Weber und Notarius C. F. von Schiepenbeck nickten verständig über die Erklärungen des Generaldirektors Gretz, doch schon erklang das glockenhelle Gelächter der Damen, die von ihrem Ausflug zurückkehrten, und die nun all ihre Abenteuer aufgeregt plappernd erzählten.

Es war auch schon spät geworden, und bald würde es zum Mittag läuten. Der Generaldirektor Gretz zwinkerte den Herren Notarius C. F. von Schiepenbeck und dem Intendanzrat Dr. Demetrius Weber verschworen zu. Er würde die wunderliche Geschichte, die dem Oberstleutnant Reuss am vergangenen Dienstag widerfahren war, demnächst weitererzählen … CORINNA STEGEMANN