: Kaum weniger exotisch als Sibirien
HEIMATROMAN In Finnland preisgekrönt, bei uns noch zu entdecken: die große finnlandschwedische Erzählerin Ulla-Lena Lundberg und ihr Roman „Eis“. Vom Leben und Sterben auf den Åland-Inseln in den vierziger Jahren
Ulla-Lena Lundberg ist eine der profiliertesten schwedischsprachigen AutorInnen Finnlands. Dennoch war von ihren belletristischen Werken bis vor kurzem keines ins Deutsche übersetzt worden. Lediglich ein autobiografischer Reisebericht aus Sibirien erschien 2003. Mit ihrem Roman „Eis“ lässt Lundberg nun vor unseren Augen eine Welt erstehen, die aus mitteleuropäischer Perspektive kaum weniger exotisch scheint als Sibirien.
„Eis“ spielt auf den Åland-Inseln, einem zu Finnland gehörenden Archipel weit draußen in der Ostsee. Kurz nach dem Krieg bekommt die Gemeinde der Insel Örar einen neuen Pfarrer. Petter Kummel ist gerade dem Priesterseminar entwachsen, jung und engagiert. Er bringt seine Frau Mona mit und die kleine Tochter Sanna. Im Laufe des Romans wird Sanna ein Schwesterchen bekommen, „Lillus“, das Kleinchen.
Dieses Baby ist das literarische Alter Ego der Autorin, die 1947 als Tochter eines Pastors auf der Insel Kökar geboren wurde und mit eineinhalb Jahren mit ihrer Familie aufs Festland umsiedelte. Es ist also zum Teil ihre eigene Familiengeschichte, die Lundberg erzählt, doch zugleich mehr als das. Die Autorin ist profilierte Heimatforscherin. Ihre Diplomarbeit schrieb sie in den siebziger Jahren über die Besiedelung ihrer Geburtsinsel.
Spezieller Sog
Die Mischung aus emotionaler Involviertheit und intellektueller Weitsicht macht wohl auch den speziellen Sog dieses Romans aus, der von familiärer Idylle und frommer Naturverbundenheit erzählt. Allerdings sind sowohl die Idylle als auch die Frömmigkeit zwar Dinge, nach denen diese Menschen mit aller Kraft streben; doch lassen sie sich nicht ohne weiteres erreichen oder erhalten. Das Bewusstsein, gerade die Kriegszeit überstanden zu haben, ist frisch, nichts ist selbstverständlich.
Als großes Glück empfindet es die Pfarrersfrau, dass zum Haushalt zwei Kühe gehören. Sie ist die Tochter eines Bauern und im Stall glücklicher als an jedem anderen Ort. Lundberg zeichnet das Leben der tatkräftigen jungen Frau mit anteilnehmender Akribie nach. Mona hat studiert und als Lehrerin gearbeitet, muss jedoch in ihrem Leben als Pastorengattin alle Energie darauf verwenden, den Haushalt zu führen, was das Familien- und Landwirtschaftsmanagement beinhaltet, aber auch das ständige Bewirten von Gästen.
In der Beziehung der Eheleute ist Mona der dominante, der reifere Part. Die zahlreichen Pflichten und Tätigkeiten des Pfarrers werden eingehend geschildert, doch ist dem umtriebigen Seelsorger von Beginn an auch ein Anflug von jugendlichem Leichtsinn eigen.
Lundbergs Erzählen ist so suggestiv, dass man dem Inselleben lange gebannt folgt, ohne zu merken, dass wenig passiert, was man gemeinhin mit der Gattung des Romans verbindet. Charakterporträts der Inselbewohner, Beschreibungen von Landschaft und Wetter sowie – als leicht irritierendes Moment – die Erzählungen des Steuermanns der Küstenwache, der mit den Meeresgeistern zu kommunizieren scheint, gehen eine nahtlose erzählerische Verbindung ein mit den Geschicken der Pfarrersfamilie. Heu wird gemäht und eingefahren, das Meer friert zu und taut auf, ein Kind wird gemacht und geboren. Das ist genau wie im wahren Leben, doch ist es für einen Roman auffällig entwicklungsresistent angelegt.
Radikal naturalistisch
Was den narrativen Aufbau angeht, pflegt Lundberg einen radikalen Naturalismus. Sie erfindet keine dramatischen Entwicklungen; Konflikte, die zwischen Personen aufflammen, versinken wieder in erzählerischer Bedeutungslosigkeit. So geht es dahin, das Leben. Aber nur so kann es passieren, dass man auch als Leser, da man sich mental so schön mit eingerichtet hat im Dasein dieser Menschen, fast ebenso schockiert ist wie diese, als doch noch eine Katastrophe eintritt. Allen literarischen Konventionen zum Trotz hat die sich durch nichts angekündigt.
Diese beharrliche erzählerische Nähe zur Realität und der lebendige Detailreichtum in der Schilderung einstiger Lebensverhältnisse holt die fremde Vergangenheit so dicht heran wie nur möglich. Es fehlt jede distanzierte Ironie oder intellektuelle Abgeklärtheit. Gleichzeitig aber ist Lundbergs Erzählen von einer großen Lebensklugheit durchdrungen, die gewährleistet, dass diese Prosa niemals in Kitschverdacht geraten könnte.
Ja, doch, man könnte „Eis“ einen großen Heimatroman nennen. Das würde bedeuten, einen vielgeschmähten Begriff zu rehabilitieren und umzudeuten. Für Romane wie diesen gibt es in der Literaturlandschaft keinen passenden Ort. Aber der Ort, an dem er spielt, liegt ja ohnehin sehr weit abseits. Sogar von Helsinki aus gesehen. KATHARINA GRANZIN
■ Ulla-Lena Lundberg: „Eis“. Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig. Mare Verlag, Hamburg 2014, 327 S., 24 Euro