: Jetzt bloß keinen Fehler machen
PARADIES Nie war die Gesellschaft freier. Nie gab es mehr Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen. Aber das macht viele Menschen nicht glücklich. Es verängstigt sie
Der Psychologe Siegbert Warwitz hat einige Verhaltensweisen ausgemacht, mit denen Menschen ihren Ängsten begegnen. Erkennen Sie sich wieder?
■ Vermeidung: Sie weichen Situationen und Personen aus, die bei Ihnen Angst auslösen.
■ Bagatellisierung: Sie reden die Angst klein, Sie spielen die Symptome herunter.
■ Verdrängung: Sie lenken sich von ihrer Angst ab, betäuben sie und geben sich selbst schonende Erklärungen dafür.
■ Leugnung: Sie blenden die Angst aus. Sie hat keinen Platz im Spektrum Ihrer Empfindungen.
■ Übertreibung: Sie treffen überzogene Sicherheitsvorkehrungen und wiederholen sie zwanghaft.
■ Generalisierung: Sie geben die eigenen Ängste als Norm aus.
■ Heroisierung: Sie fühlen sich stark, weil Sie Ihre Angst aushalten. Sie sind ein Held.
VON SEBASTIAN KEMPKENS UND STEFAN REINECKE
Tick, tick, tick. Bei jedem Schritt hörte Maria Roth dieses Geräusch. Wie eine Uhr, es hallte in ihrem Kopf. Der Arzt sagte: Ein Wirbel im Nacken ist verspannt, das ist der Stress, reduzieren Sie ihr Arbeitspensum. Aber die Studentin der Kulturwissenschaft organisierte gerade eine Podiumsdiskussion, nebenher hatte sie zwei Jobs als studentische Hilfskraft. Was hätte sie denn tun sollen? Kündigen und im Bett liegen bleiben?
Heute ist Roth an der britischen Elite-Universität London School of Economics eingeschrieben. Sie wartet gerade auf ihre Abschlussnote. Es wird ein Zeugnis mit Auszeichnung.
Für ihre spätere Karriere ist das sicherlich gut. Für ihre Gesundheit war es das nicht.
Als sie ihre Bachelor-Arbeit in Tübingen schrieb, konnte sie kaum noch sehen. Die Augen stellten nicht mehr scharf.
Während ihres Masters in London bekam sie Herzrasen. Sie lag alle zwei Wochen mit Grippe im Bett. Das sei der Stress, sagten die Ärzte. Sie verschrieben ihr Beruhigungsmittel.
Maria Roth ist 23 Jahre alt, aber ihr Lebenslauf sieht aus, als wäre sie zehn Jahre älter. Auf eng beschriebenen Seiten listet sie Studium, Arbeitserfahrungen und „relevante Qualifikationen und Interessen“ auf. Abitur mit 1,0. Bachelor in nur zwei statt drei Jahren. Note 1,2. Einjähriger Master in London. Parallel machte Roth vier Praktika, hatte fünf Ehrenämter, zwei Jobs und ein Stipendium. Trotzdem habe sie Panik, sagt die Studentin, Angst, „arbeitslos auf dem Amt zu enden“. Sie fürchtet den Absturz, aber mehr noch fürchtet sie, in ein paar Jahren nicht zu denen zu gehören, die von sich sagen, dass sie es geschafft haben.
Weil sie sich nicht genug angestrengt hat. Nicht genug gelernt. Weil sie vielleicht einen Fehler gemacht hat, irgendetwas übersehen, das sie später verfolgen könnte. Deswegen möchte sie nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht. Maria Roth hat ihren Abschluss an einer der renommiertesten Universitäten der Welt gemacht und doch fürchtet sie die Zukunft.
Heinz Bude empfängt in seiner Wohnung in Berlin-Weißensee, im Nordosten der Stadt. Ein Neubau, schlicht, stilvoll. Der 59-Jährige trägt Jeans, Polohemd, Glatze, schwarze Brille. Zu Geschichten wie der von Julia Roth sagt er: Die Null-Fehler-Logik regiert gerade bei Jüngeren. Das Denken in Risikoszenarien ist stärker geworden. Und wer dauernd an Risiken denkt, für den ist alles unsicher. Und: Früher reichte für die Karriere eine gute Ausbildung, gute Note. Heute will man zu den wenigen Erfolgreichen gehören, eine besondere Biografie vorweisen können, die einen vom Rest abhebt. Auch bei Rechtsanwälten, Unternehmensberatern und Ärzten, schreibt Bude, gelte wie bei Künstlern und Fußballstars die „Winner takes it all“-Logik: Wenige bekommen viel Geld und Aufmerksamkeit und viele bekommen wenig davon. Das macht Stress.
Etwas so Großes wie Angst in kurze, prägnante Sätze zu fassen, ist das Spezialgebiet Budes. Der Soziologe hat den Begriff „Generation Berlin“ erfunden, für die politisch unauffälligen, heute um die 50-Jährigen, die im Leben kaum ein anderes Ziel haben, als das Beste für sich herauszuholen. Zuletzt analysierte er die Bildungspanik, die Mittelschichteltern dazu bringt, ihre dreijährigen Kinder in Chinesischkurse zu jagen.
Manche Wissenschaftler und Journalisten stört, dass er sehr elastisch Diagnosen liefert, die in den Zeitgeist passen.
Sein neues Buch erscheint am Montag. Es heißt „Gesellschaft der Angst“. Es ist ein Blick auf die sozialen Schlüsselstellen der Republik, die Liebesmärkte, Beziehungen, die Arbeit und die Generationen. „In Begriffen der Angst“, schreibt Bude, „fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls.“
Was heißt es, dass die erfolgreiche Studentin Maria Roth die Zukunft fürchtet?
Lange galt die Bundesrepublik als hysterisch. Ihren eigenen Konservativen, aber vor allem dem westlichen Ausland. „German Angst“ fasste die Furcht vor Waldsterben, Aufrüstung, Atomtod, die technikskeptischen Bewegungen der 80er Jahre in ein griffiges Wort.
Die Zeit der „German Angst“ ist vorbei, sagt Bude.
Gezeigt habe das die Finanzkrise 2008: „Die Deutschen haben ruhig reagiert.“ Keine Panikattacken, keine Inflationsängste, stattdessen kühle Gefahrenabschätzung und Kurzarbeitergeld. Die Angst in Deutschland sei „wie ein Hintergrundgeräusch, wie rieselnder Sand“, sagt Bude. Versteckter als früher. „Die Mittelschichten sind objektiv ziemlich gesichert, sagt er dann noch, „allerdings subjektiv nervös“.
Von seinem Arbeitszimmer aus kann man durch die Bäume hindurch auf den See schauen. Der Innenhof ist aufgeräumt. Hier geht es der Mittelschicht tatsächlich sehr gut. Könnte es sein, dass Heinz Bude seine Nachbarschaft mit dem Rest der Republik verwechselt? Nein, sagt er. „Die Großthese, dass die Deutschen von Angst regiert werden, stimmt nicht mehr.“
Die Angst sei aber nicht verschwunden. Sie sei nur schlechter festzumachen an konkreten Bedrohungen. „Angst“, sagt Bude, „ist derzeit eine Stimmung, kein Gefühl.“
Maria Roth sagt, sie wurde zum ersten Mal von dieser Stimmung erfasst, als sie in der sechsten Klasse war. Männer aus der Industrie hielten an ihrer Schule Vorträge darüber, welche Praktika sie wann gemacht haben sollte. Bei Maria Roth ist hängen geblieben, dass sie sich anstrengen muss. Sonst passiert etwas Furchtbares.
Im Studium ging es so weiter. Auf Jobmessen, Karrierepodien und in Networkingrunden. Einmal, erzählt Roth, musste eine Professorin ein Berufsvorbereitungsseminar über die Anforderungen der Wirtschaft an Uni-Absolventen abbrechen. Der Vortrag einer Museumsdirektorin hatte solche Angst bei den Studierenden ausgelöst, dass es Redebedarf gab. „Das war kollektive Panik“, sagt Roth. „Wir haben uns alle gefragt, wie wir das schaffen sollen, ob wir jemals einen Job bekommen.“
Sie ist klug. Roth sieht genau, wie sie sich verhält. Die letzten vier Monate hat sie damit verbracht, für ihre Masterarbeit kapitalistische Diskurse aus den 50ern mit aktuellen zu vergleichen. „Ich habe diese Denke bis ins kleinste Detail aufgeschlüsselt“, sagt sie. „Und trotzdem kann ich mich davon nicht lösen.“ Etwas zu leisten, das sei ein Drang, den sie „richtig im Blut“ habe. Distanz dazu gebe es nur in ihrem Verstand.
HEINZ BUDE, SOZIOLOGE
Maria Roth weiß, dass sie viel investiert hat. Dass die Statistiken sagen, gut ausgebildete Jungakademiker müssen sich heute weniger um ihre Karriere sorgen als vor 30 Jahren. Sie weiß auch, es gibt größere Sorgen als die ihren, dass anderswo Menschen in Kriegen sterben.
Aber sie muss nur eine Stellenausschreibung lesen, dann packt sie die Angst wieder: Es war nicht genug.
Und seit wann ist die Vernunft stärker als das Gefühl?
Wissenschaftler, die Kriminalität erforschen, kennen das sogenannte Sicherheitsparadox. Junge Männer, die in Discos gehen, fühlen sich meist völlig ungefährdet – obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass sie Opfer eines Verbrechens werden, statistisch eher hoch ist. Ältere Frauen fühlen sich bei Dunkelheit auf der Straße extrem unsicher, dabei droht ihnen dort statistisch gesehen kaum Gefahr.
Gefühlte und tatsächliche Bedrohungen sind verschiedene Wirklichkeiten. Paradox oder nicht, die Angst wirkt. Heinz Bude schreibt, Angst sei „das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle anderen Prinzipien relativ geworden sind“. Es ist ein Gefühl, das sich nicht wegdiskutieren lässt, höchstens zerstreuen.
„Über Angst kann die Muslima mit der Säkularistin, der liberale Zyniker mit dem verzweifelten Menschenrechtler reden“, schreibt Bude. Es ist ein Gefühl, das jeder kennt, wie ein stetes Hintergrundgeräusch eben. Nur wird es für manche zu einem Dröhnen.
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat schon vor fünfzehn Jahren in „Das erschöpfte Selbst“ Burn-out und die klinische Depression als typisch für postmoderne, hedonistische Gesellschaften beschrieben. Drill und Zwang alter Zeiten sind zwar nicht völlig verschwunden, aber viel mehr als früher ist das selbstbewusste Individuum gefragt, das sich im Job selbst verwirklicht.
Das kann etwas sehr Schönes sein: der Abschied vom Fabrikkapitalismus, stumpfsinnigem Schuften unter strenger Aufsicht. Die Versöhnung von Arbeit und Lust war ein Traum der Alternativbewegung, aus der auch die taz entstand.
Aber etwas Besonderes aus sich zu machen, kann von einer Möglichkeit zu einem inneren Zwang werden. Etwa fünf Millionen Erwachsene leiden in Deutschland im Jahr 2014 unter behandlungsbedürftigen Formen von Depression oder Burn-out. Bei fast jedem dritten Fall von Berufsunfähigkeit sind psychische Erkrankungen der Grund, Tendenz steigend.
Die Depression, schreibt Ehrenberg, ist „die Krankheit par excellence des demokratischen Menschen“.
Was als Gewinn an Freiheit erscheint, erweist sich hinterrücks als eine weitere Anforderung. Coachingtrainer, Frauenzeitschriften und die IG Metall predigen, wie wichtig es ist, Arbeit und Leben zu vereinbaren. Work-Life-Balance heißt das kollektive Ideal. Alle Umfragen zeigen, dass den meisten Familie und Freunde wichtiger sind als Karriere. Das Arbeitsvolumen in Deutschland steigt trotzdem von Jahr zu Jahr.
Franz Ostermann sitzt auf der Terrasse eines Restaurants in Berlin-Pankow. Eine bürgerliche Gegend am Stadtrand, Heinz Bude wohnt nicht weit weg. Vor Ostermann stehen ein Pils, Oliven und Brot, neben ihm sitzt seine Frau Martina. Der 46-Jährige arbeitet als Softwareentwickler bei einer Berliner Firma, er leitet Projekte, betreut Kunden. Die Branche ist klein, auch er möchte seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen.
Es ist dunkel geworden und kühl, Ostermann hat lange geredet. Er hat erzählt, wie gut es auf der Arbeit anfangs lief, dass ihm sein Chef einen ordentlichen Bonus zahlte und er beschloss, mit Martina ein Haus im Grünen zu bauen. Dann ging die Baufirma pleite, ein paar Tausend Euro versickerten im Insolvenzverfahren. Martina wurde krank, es war unklar, ob sie wieder würde arbeiten können.
Irgendwann lag er nur noch auf dem Bett und dachte: Ob ich jetzt aufstehe oder nicht, was ändert es schon?
Der Job hat die Depression nicht allein ausgelöst, so ist es nie. Da war die schwierige Zeit mit seinem Sohn, „der sich einfach mal kalt fünf Bier reinzog“. Ein Kind von zwölf Jahren, von dem er fürchtete, es würde ein Krimineller auf Berlins Straßen – wie in einem Gangsterfilm. Der Sorgerechtsstreit mit seiner Exfrau, das Ohnmachtsgefühl, weil die Gesetze dem Vater damals kaum Rechte einräumten. Dazu der Hausbau, die Sorgen ums Geld. „Aber der Job“, sagt Ostermann, „hat mir am Ende das Genick gebrochen.“
Es war der Wahn, alles schaffen zu wollen: Auf der Arbeit den Chef und die Kunden zufriedenstellen, Geld verdienen für zwei. Zu Hause Gitarre spielen und den Sohn retten, dazu die Terrasse des neuen Hauses planen und die exakt richtigen Türen finden.
■ Das Buch: In „Gesellschaft der Angst“ untersucht der Soziologe Heinz Bude, was Menschen heute wichtig ist, was sie empfinden und erhoffen. All das kristallisiert sich für Bude im Begriff der Angst. Wer weiß, was eine Gesellschaft fürchtet, der kann auch abschätzen, wohin sie sich entwickelt. „Angst zeigt uns, was mit uns los ist“, schreibt Bude. Das Buch erscheint am Montag in der Hamburger Edition.
■ Die Bilder: Die Fotografin Julia Zimmermann hat für ihre Porträts Menschen angesprochen und gebeten, sich die Augen zu verdecken und zu versuchen, für einen Augenblick ganz bei sich zu sein. Für sie geht es in unserer Gesellschaft sehr viel darum, sich nach außen zu produzieren. Die Beschäftigung mit sich selbst, die Innenschau, werde dagegen oft vernachlässigt, sodass Stille und innere Einkehr Ängste hervorrufen.
Als Ostermann eine Pause macht, sagt seine Frau: „Du bist in einen Funktionsmodus gefallen wie ein Tier, das sagt: Hier ist der Angreifer.“ Wenn der Tag nur noch aus Herausforderungen bestehe, wandle sich der Mensch zum Vieh. „Die Seele stellt sich um, sie verlässt dich dann.“
Ostermann hatte immer das Gefühl, mehr leisten zu müssen als die anderen. Er ist in Ostberlin aufgewachsen, sein Vater war verurteilter Republikflüchtling, durfte nicht studieren. Auch Ostermann machte kein Abitur. Heute, erzählt er, haben fast alle, die er kennt, studiert. Er nicht.
Dafür schämte er sich. Wenn es bei Meetings mit Kunden, beim Geschäftsessen um die alten Zeiten an der Uni ging, schwieg er einfach, „bis es zu Ende war“. Zurück im Büro arbeitete Ostermann dafür umso härter. Er wollte seinem Chef beweisen, dass ihm 700 Euro mehr zustehen. So wie seinen Kollegen, die studiert haben.
Die Krankheit spürte er erst, als sie bereits da war. Alles fühlte sich wie eine zermürbende Pflicht an, selbst der beste Freund, der sich auf ein Bier treffen wollte. Der Arzt schrieb Ostermann für ein Jahr krank, inzwischen geht es ihm besser. „Früher“, sagt er, „drehte sich das Rad und ich bin gerannt. Heute kann ich es halbwegs mitsteuern.“
Heinz Bude beschreibt dieses Phänomen: dass die Freizeit nur ein weiterer Punkt in der Aufgabenliste wird. Neben der Karriere muss man Familie, Freundschaften und Hobbys bestmöglich meistern. „Das kann Angst machen“, sagt Bude, „weil die Möglichkeiten, sich vor den eigenen Ansprüchen zu blamieren, gewachsen sind.“
Einer solchen Panik, ein komplett erfolgreiches Leben vorweisen zu müssen, ist kaum zu entkommen, denn es ist die Panik vor sich selbst. Und man kann nicht einmal jemanden dafür verantwortlich machen, dass diese Angst da ist. Auch daran ist man schließlich selbst schuld.
Weder Julia Roth noch Frank Ostermann fürchten, dass ihnen etwas weggenommen wird. Es ist eher die Angst, im Irrgarten der Möglichkeiten nicht den richtigen Weg zu finden, es könnte immer noch einen besseren geben, lautet der auf Dauer gestellte Konjunktiv. Die Mittelschicht, schreibt Heinz Bude, empfindet ein „Gefühl des Ungenügens, das auch Yogaübungen, Coaching und Wellnesswochenende“ nicht vertreibe.
Aber vielleicht die Liebe.
Angesichts der großen Unsicherheit sieht Bude eine verstärkte Neigung zum Verbindlichen. Die Scheidungsrate ist niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. „Bindung ist ein knappes, umkämpftes Gut, gerade bei den Höhergebildeten“, sagt der Soziologe. Er beobachtet das auch an der Universität. „Die Studenten experimentieren nicht mehr in Beziehungen wie früher. Sie schauen mehr auf Verlässlichkeit.“
Die Furcht, alleine zu bleiben, hat auch die Jüngeren erfasst. Trotz der Explosion von Beziehungslabeln und den durch das Internet erweiterten Möglichkeiten, einen Partner zu finden. Ist es, zumindest in den Großstädten, nicht ziemlich schwer, dem Datingmarkt zu entkommen?
„Es ist unmöglich“, sagt Michaela Peters. Die 24-Jährige sitzt in einer Bar in Berlin-Friedrichshain, einem gerade noch so als angesagt geltenden Stadtteil in Ostberlin. Ringsum Cocktailbars und Lichterketten. Ihre Freundinnen hätten tagelang nur von einem gesprochen: Tinder, Tinder, Tinder. Irgendwann probierte sie die App selbst aus. Seitdem lernt sie Männer übers Handy kennen. Jeden Tag bietet das Programm ihr eine neue Auswahl an. Tinder zeigt ihr das Foto eines Mannes, seinen Vornamen und sein Alter. Wenn Michaela Peters ihn interessant findet, wischt sie sein Bild auf dem Touchscreen nach rechts. Hat dieser Mann dasselbe mit ihrem Profilbild getan, können sie sich schreiben.
„Dating“, sagt Bude, „ist die hysterische Form der Bewältigung der Angst, alleine zu bleiben.“ Demnach sind Apps wie Tinder und sinkende Scheidungsraten zwei Seiten derselben Medaille. Datingmärkte sind zudem eine interessante Version des Kapitalismus. Sie verkaufen den Kunden eine Illusion: dass der Konsument wie auf jedem Markt wählen kann. „Das ist ein Irrtum“, sagt Bude. Die Erfahrung vieler Menschen sei eben nicht die, dass sie ihren Partner wählen, sondern dass sie gewählt werden. Dieser Unterschied zwischen Dating und einem Supermarkt hält der Soziologe für eine „Selbsternüchterung des Homo oeconomicus“. Man kann eben doch nicht alles kaufen.
gab es mehr als doppelt so viele Fehltage durch Depressionen und andere psychische Krankheiten als noch 1997 Quelle: DAK Gesundheitsreport 2013
33
Prozent der deutschen Bevölkerung sind jedes Jahr von mindestens einer psychischen Störung betroffen Quelle: Robert Koch Institut
28
Milliarden Euro machten 2008 die Krankheitskosten für psychische Störungen aus: zehn Prozent der jährlichen Gesamtkosten Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes
108
psychische Störungen gibt es in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme Quelle: Weltgesundheitsorganisation
42,7
Prozent aller Personen, die 2013 in Frührente gingen, gaben als Grund ein psychisches Leiden an Quelle: Deutsche Rentenversicherung
16,2
Prozent aller psychischen Störungen werden als eine Angststörung diagnostiziert Quelle: Robert Koch Institut
Michaela Peters ist für einen Job als Zahnarzthelferin nach Berlin gekommen, vor einigen Jahren schon. Das Unverbindliche der Großstadt irritiert sie noch immer. Tinder, sagt Peters, sei für sie eine Maschine zur Angstbewältigung: Auf der Straße würde sie nie jemanden ansprechen, angesprochen werde sie auch nicht. Seit sie in Berlin sei, fühle sie sich hin und wieder einsam. Ihr fällt es nicht leicht, das auszusprechen, sie sagt es nach dem dritten Glas Weißwein. „Tinder ist da ein bisschen eine Rettung.“ Man kann das schon alles so zitieren, schreibt sie am nächsten Tag, aber ihren Namen möchte sie lieber rauslassen. Die Furcht vor der Einsamkeit hat auch die Familien umgekrempelt. Am stärksten verändert sich die Rolle der Kinder. „Sie sind nicht mehr mithelfende Familienangehörige, sondern mitfühlende Partner“, sagt Bude. Die Erwachsenen sehnen sich nach unkündbaren Beziehungen, Vater oder Mutter ist man lebenslänglich.
„Die Empathiebelastung der Kinder nimmt extrem zu“, sagt der Soziologe. „Wir werden eine Generation bekommen, die sagt: Dass ich die unkündbare, verbindliche Beziehung für meine Eltern sein musste, ist eine Last.“
Fragt man Bude, was er über sich selbst beim Erforschen der Angst gelernt hat, kommt die Antwort langsam, bei ihm eine Seltenheit. „Ich bin kein unbeteiligter Beobachter, sondern Teil dieses Systems“, sagt er. Es habe ihn überrascht, wie sehr das Vergleichen uns prägt. Und wie tief die Verbitterung sei bei denen, die meinen, verloren zu haben. Wer hat mehr Geld, Freunde, Erfolge, stabile Beziehungen, Sex? „Diese Konkurrenz beherrscht uns viel mehr als wir glauben.“
Sie auch, Herr Bude?
Nein, sagt er, „weil ich so viel Glück hatte“. Weil er eine alimentierte Existenz als Professor hat und tun und denken kann, was er will.
In Kassel hat er eine Professur, nebenher arbeitet er in Hamburg an Jan Philipp Reemtsmas Institut für Sozialforschung.
Bude fährt viel Bahn, in der ersten Klasse. Dort beobachtet er die Banker und Manager, die an ihrem Laptop Zahlenkolonnen bearbeiten müssen. Dann ist Heinz Bude froh, weil ihm das erspart bleibt und er sich den Sitz trotzdem leisten kann.
Eine kleine Befriedigung, entstanden durch einen Vergleich.
■ Sebastian Kempkens, 26, arbeitet als freier Journalist und hat Angst vor Abgabefristen
■ Stefan Reinecke, 55, ist Parlamentsredakteur der taz und hat Höhenangst