: Die Rückkehr der Waisenkinder
ZEITGESCHICHTE Älter sind sie heute. Ehemalige Kinder aus dem Pankower Jüdischen Waisenhaus treffen sich im Betsaal wieder
Die zu Ehrenden müssen nicht ins Pankower Rathaus kommen. Das Goldene Buch ist am Dienstag mitsamt dem Bezirksbürgermeister zu ihnen gereist, ins ehemalige „II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde, erbaut in den Jahren 1912–13“, wie es auf dem Giebel des Gebäudes geschrieben steht.
Heute sind dort eine Bibliothek und eine Grundschule untergebracht. Sieben ehemalige Zöglinge der Anstalt und die Tochter des Direktors Kurt Crohn unterzeichnen im ehemaligen Betsaal unter der hohen Kassettendecke.
Wer hier weniger als 80 Jahre alt ist, zählt zu den Nesthäkchen. „Ich unterschreibe noch in Sütterlin, das dauert etwas länger“, scherzt Günther Goldbarth aus Kanada, der neun Jahre im Waisenhaus verbrachte, bevor ihm 1939 in letzter Minute die Flucht aus Berlin gelang.
Zum zehnten Mal veranstaltet die Cajewitz-Stiftung Jahrestreffen dieser „Ehemaligen“. Sie haben zur Wiederannäherung früherer Berliner Kinder an ihre Heimatstadt beigetragen.
So wie das Besuchsprogramm des Berliner Senats, durch das im Laufe von 40 Jahren etwa 33.000 in der ganzen Welt verstreute Juden die Möglichkeit erhielten, noch einmal Berlin wiederzusehen. Das Besuchsprogramm läuft nun aus, weil auch die Überlebenden immer weniger werden.
Nachdem die Unterschriften im Goldenen Buch geleistet worden sind, versammeln sich die sieben Männer und eine Frau auf dem Podium, um unter Leitung von Hermann Simon, dem Chef des Centrum Judaicum, darüber zu debattieren, was es für sie heute bedeutet, Jude zu sein.
Wenig überraschend besteht darüber keine Einigkeit. Nur stellt sich heraus, dass sich nicht einer der Anwesenden als streng religiöser Mensch begreift.
Im Gegenteil: Leslie Baruch Brent, hochdekorierter Wissenschaftler aus London, bezeichnet sich selbst als „agnostischer Jude“.
Walter Frankenstein aus Schweden berichtet, wie ihm der Glaube „leider“ ausgetrieben worden ist: Als er am 1. April 1933 als Neunjähriger erleben musste, wie ein SA-Mann mit einer Pistole auf das Elternhaus schoss, habe er sich gewünscht, dass dieser Mann tot umfallen möge, wenn es denn einen Gott gebe. Der SA-Mann fiel nicht. „Der Mord an meiner Familie und die sechs Millionen ermordeten Juden sind wohl der Grund dafür, dass ich nicht mehr an Gott glauben kann“, ergänzt Brent.
Salomon Muller aus Großbritannien wiederum sagt, er habe noch nie darüber nachgedacht, was es bedeute, ein Jude zu sein. Renate Bechar aus Tel Aviv fasst zusammen: „Aus dem Judentum austreten kann man nicht.“
So sitzen auf dem Podium Menschen, die sich zu einem guten Teil erst qua ihrer Reise in die alte Heimat zum Juden definieren sollen, obwohl diese Identität für sie keine ausschlaggebende Rolle spielt.
So wie bei Frankenstein, der sagt: „Ich bin ein Sohn jüdischer Eltern.“ Und so entsprechen die Ehemaligen des Pankower Waisenhauses so gar nicht dem Klischee des jüdischen Überlebenden – aber der Realität: Acht Menschen sind unter furchtbaren Umständen aus Berlin vertrieben worden. Aber ihre Biografien ergeben deshalb kein Ganzes.
Doch dankbar sind sie alle gegenüber der Stiftung, die ihnen ein paar Tage in der alten Heimat ermöglicht hat. „Die Gastgeber „haben einen ganz großen Anteil daran, dass sich die Bitterkeit, die sich in mir angestaut hat, abgebaut hat“, sagt Renate Bachar. Viel mehr Lob kann es nicht geben.
Außer vielleicht das von Leslie Baruch Brent, der sich bei Renate Bechar bedankt: „Ihr Vater hat mein Leben gerettet.“ Das war der Waisenhausdirektor Kurt Crohn. Er wurde in Auschwitz ermordet. KLAUS HILLENBRAND