piwik no script img

Archiv-Artikel

Reise durch die Reservate

FOTOGRAFIE Aus Deutschland vertrieben und vergessen: Der Fotograf Rolf Tietgens emigrierte 1938 in die USA. Eine Monografie entdeckt den „Poeten mit der Kamera“ wieder

Tietgens erstes Fotobuch war eine Sammlung seiner in den USA entstandenen Indianerfotografien

VON WILFRIED WEINKE

„Poet with a camera“, so charakterisierten ihn Freunde, als Rolf Tietgens im Alter von 73 Jahren in New York starb. Ein Nachruf in der New York Times auf den „german-born photographer“ fiel denkbar knapp aus; er verwies auf den ersten Aufenthalt in den USA 1933, die endgültige Einwanderung 1939 und die Arbeit als „commercial photographer“. Auch seine experimentellen, surrealistischen Fotografien wurden erwähnt und hervorgehoben, dass zwei seiner Fotos in der permanenten Fotoausstellung des Museum of Modern Art in New York zu sehen sind.

Dass der Name Rolf Tietgens (1911–1984) bislang nur wenigen Fotoenthusiasten ein Begriff ist, lässt sich, wie Eckhardt Köhn, Autor der ersten umfassenden Biografie zu Rolf Tietgens, richtig feststellt, „nur vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der durch sie erzwungenen Emigration verstehen“. Es war eine so radikale Vertreibung und Auslöschung, dass der Name Rolf Tietgens selbst in Klaus Honnefs/Frank Weyers Buch „Und sie haben Deutschland verlassen … müssen“, einem Standardwerk zu vertriebenen Fotografinnen und Fotografen, fehlt.

Tietgens, aus einer wohlhabenden Hamburger Patrizierfamilie stammend, sollte nach einer kaufmännischen Lehre die Firma des Vaters weiterführen. Eine Reise in die USA brachte ihm nachhaltige Begegnungen mit nordamerikanischen Indianergruppen und Reisen in Reservate im amerikanischen Südwesten ließen ihn eine andere berufliche Entscheidung fällen. Er wollte freier Fotograf und Autor werden, beeinflusst von seinen Freunden, dem Maler Eduard Bargheer und dem Fotografen Herbert List.

Verbotene Lektüre

1936, ein Jahr, nachdem die sogenannten Nürnberger Gesetze deutsche Juden zu Bürgern zweiter Klasse machten, erschien im Grauen Verlag Tietgens’ erstes Fotobuch „Die Regentrommel“, eine Sammlung seiner in den USA entstandenen Indianerfotografien. In einem Werbeblatt des Verlags hieß es: „Die Zivilisation der weißen Rasse feiert ehrfurchtslose Triumphe. Eines jedoch hat sie den Enkeln Winnetous nicht zu nehmen vermocht: den Adel ihrer Seele. Von ihm berichtet ein junger Deutscher, der dorthin vorgedrungen ist, wohin Reporter sonst nicht gelangen.“ Das Buch, für Tietgens „eine Art Gedicht von Text und Photos“, wurde schon 1936 als Lektüre für die Hitlerjugend verboten.

Fotos von Rolf Tietgens erschienen damals in der Zeitschrift Der Querschnitt, darunter eine beeindruckende Komposition vom Personenverkehr auf Berlins Jannowitzbrücke. Obwohl Tietgens an Leni Riefenstahls „Olympia“-Film als Kameraassistent mitarbeitete, wurde seine Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer im Januar 1938 aufgehoben. So konnte er seinen Wunsch, als freier Fotograf in Deutschland zu arbeiten, nicht realisieren.

Noch im Mai 1939 erschien im Ellermann-Verlag Rolf Tietgens’ Buch „Der Hafen“, dass von Fachleuten „zu den besten Fotobüchern der 1930er Jahre“ gezählt wird. Die 84 Schwarz-Weiß-Bilder, ein fotografischer Hymnus an den Hafen als lebendiger Organismus, erhielten damals ein Geleitwort von dem Schriftstellers Hans Leip. Vier Monate zuvor, im Januar 1939, erschien in der von der Kodak Aktiengesellschaft in Berlin herausgegebene Zeitschrift Photographik Rolf Tietgens’ Aufsatz „Über photographische Gestaltung“. Als Wohnort des Autors war „Hamburg-Blankenese“ angegeben.

Doch zu diesem Zeitpunkt befand sich Tietgens schon in New York. Da die Repressalien der Nationalsozialisten gegen Homosexuelle zunahmen, war Tietgens’ Ende Dezember 1938 in die USA emigriert. Tietgens’ Start in den USA war vielversprechend. Schon bald gelang es dem 28-jährigen Emigranten, Fotografien wie theoretische Texte zu seinem Selbstverständnis in amerikanischen Fachzeitschriften und Periodika zu platzieren. Tietgens’ Fotos wurden auch in den von Edward Steichen betreuten Jahresbänden U.S. Camera abgedruckt. Im Februar/März 1939 konnte er eine eigene Ausstellung in der Universität Princeton eröffnen. Tietgens wurde Mitglied in der Photo League, einer Organisation auch politisch engagierter Fotografen.

Briefe und Freunde

Unter Verwendung von Tietgens’ Korrespondenz mit dessen europäischen Freunden gelingt es Köhn, Tietgens’ weiteren Werdegang zum „wellknown commericial photographer und writer“ nachzuzeichnen. Aus Tietgens’ soziale Kontakten in den USA ragt die enge Freundschaft zu der Schriftstellerin Patricia Highsmith heraus; ihren 1964 veröffentlichten Roman „Die zwei Gesichter des Januars“ widmete sie ihrem Fotografenfreund. Wie sehr Tietgens von dem urbanen Lebensort New York geprägt war, unterstreicht seine 1952 entstandene Fotoserie „Times Square, U.S.A.“.

1964 beendete Tietgens seine Arbeit als Fotograf und wandte sich der Malerei zu. Die von seinen Freunden bei seinem Tod gefundene Charakterisierung als „poet with a camera“ wird für Eckhardt Köhn titelprägend. Seine deutsche/englische, reich illustrierte Monografie entreißt einen faszinierenden Fotografen dem Vergessen.

■  Eckhardt Köhn, „Rolf Tietgens – Poet mit der Kamera. Fotografien 1934–1964“ (Deutsch/Englisch). Die Graue Edition, Zell-Unterentersbach 2011. 382 Seiten, 210 Abbildungen, 48 Euro