SPALTET SICH BERLINS JÜDISCHE GEMEINDE? DER STREIT IST SYMPTOMATISCH
: Phase des Übergangs

Berlins jüdischer Gemeinde, der größten im Lande, droht die Spaltung: Eine kleine Gruppe droht gar mit Gründung einer Gegengemeinde. Dass dies in erster Linie persönliche Gründe hat, zeigt ein Blick auf die Protagonisten: Da ist ein ehemaliger Vorsitzender, der aufgrund einer geschickt eingefädelten Intrige einst gehen musste und dies noch immer nicht ganz verwunden hat. Da ist ein neuer, junger Vorsitzender, dem die Autorität fehlt, den Laden zusammenzuhalten. Und da ist ein orthodoxer Rabbiner, der die alteingesessenen liberalen Juden an den Rand drängt, indem er immer mehr russische Zuwanderer hinter sich schart.

Die Auseinandersetzungen in der Hauptstadt sind aber auch symptomatisch. Tatsächlich lassen sich in fast allen jüdischen Gemeinden derzeit zwei Spannungslinien feststellen: Alteingesessene gegen Zugezogene und Liberale gegen Orthodoxe. Falsch wäre es, dies auf einen Streit zwischen „orthodoxen Russen“ und alteingesessenen liberalen Juden zu verkürzen: Dafür ist das Leben in den jüdischen Gemeinden viel zu bunt.

Dennoch lässt sich nicht verhehlen, dass das alte liberale Judentum an Einfluss verliert. Und viele Gemeinden werden noch über Jahrzehnte eher an russische Kulturvereine erinnern denn an jüdische Kultusgemeinschaften. Man kann das beklagen, aber man sollte nicht allzu pessimistisch sein: Auf Dauer wird sich auch auf dieser Grundlage ein neues deutsches Judentum entwickeln. Schon jetzt hat sich die junge russischstämmige Generation von der sowjetischen Prägung ihrer emigrierten Eltern und Großeltern weit entfernt.

Das Judentum in Deutschland befindet sich derzeit in einer Phase des Übergangs. Das bietet Anlass zum Streit; es zeugt aber auch von neuer Blüte. Einen solchen Zuwachs wie zuletzt durch die russische Einwanderung wird die jüdische Gemeinschaft der Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr erleben. Dass sie angesichts dieses Wandels jetzt ächzt und stöhnt und streitet, ist nicht verwunderlich. Es sollte ihr aber nicht den Blick auf dessen Chancen verstellen.

PHILIPP GESSLER