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Archiv-Artikel

Die Angst kommt mit

Eine Studie der kirchlichen Hilfsstelle Fluchtpunkt und des Universitätsklinikums Eppendorf untersucht „psychopathologische Auffälligkeiten“ bei Flüchtlingskindern. Die Ergebnisse sind alarmierend

von DANIEL WIESE

Es sind zunächst nackte Zahlen, gefolgt von medizinischen Begriffen wie „spezifische Phobien“ oder „Major depressive Episode“. Sie stehen in einer Diplomarbeit, geschrieben im Fach Psychologie. Doch hinter diesen Zahlen und Begriffen verbergen sich Geschichten. Es sind die Geschichten von Kindern, die in Hamburg ohne sicheren Aufenthaltsstatus leben.

Da war ein 13-jähriges Mädchen, „nennen wir es Fatimah“, sagt Claudia Oelrich, die Verfasserin der Studie. Fatimah sei sehr leise und zurückhaltend gewesen, sie habe beteuert, keine Probleme zu haben. Allerdings leide sie unter Schmerzattacken, manchmal müsse sie erbrechen. Oerlich spricht von „Somatisierung“. Der Körper trägt die Probleme aus, die anders nicht verarbeitet werden können. „Die meisten Kinder kamen mit der Einstellung, ‚da kommen wir schon alleine mit zurecht‘“, sagt Oelrich.

Auf das Thema ihrer Diplomarbeit ist sie im Universitätsklinikum Eppendorf gestoßen, wo sie bei der „Spezialambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien“ als wissenschaftliche Hilfskraft arbeitete. Unterstützt wurde das Projekt von der kirchlichen Hilfsstelle „Fluchtpunkt“, dort wurde die Studie gestern vorgestellt.

Durch diagnostische Interviews fand Oerlich heraus, dass über 60 Prozent der Flüchtlingskinder psychische Störungen zeigten, die als behandlungsbedürftig gelten. Normalerweise liegt der Anteil bei knapp 20 Prozent.

Als die häufigste Erkrankung stellten sich Phobien heraus. Viele der Kinder hätten Höhenangst oder Angst davor, in einem Fahrstuhl eingesperrt zu sein. Verbreitet sei auch die Angst vor Dunkelheit und die Furcht, Blut sehen zu müssen. Etwas mehr als 25 Prozent der Kinder litten an derartigen Phobien, im Bevölkerungsdurchschnitt seien es neun Prozent.

Signifikant stärker verbreitet als im Durchschnitt ist bei den Flüchtlingskindern auch die Trennungsangst. „Viele trauen sich nicht, zur Schule zu gehen“, sagt Oerlich. Sie hätten Angst, dass die Eltern nicht mehr da sind, wenn sie zurückkommen. Etwas über 17 Prozent der Kinder sind davon betroffen, ebenso viele leiden an Depressionen oder an der „posttraumatischen Belastungsstörung“. Die betrifft vor allem Kinder mit Kriegserlebnissen, sie geht mit Übererregtheit einher und Flashbacks, in denen das Erlebte noch einmal erlebt wird.

86 Prozent der Kinder gaben an, nicht in die Heimat ihrer Eltern zurückkehren zu wollen. 84 Prozent fühlten sich in Deutschland zu Hause, 88 Prozent hatten Angst vor Abschiebung.

Die Daten der Studie deuteten darauf hin, dass die psychischen Probleme zunehmen, je länger die Kinder sich im ungesicherten Aufenthaltsstatus befinden. „Um das definitiv sagen zu können“, sei die Stichprobe jedoch zu klein gewesen, sagt Oelrich. An der Studie nahmen 51 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 19 Jahren teil.

Nach den EU-Richtlinien für die Aufnahme von Flüchtlingen hätten diejenigen, die psychisch belastet sind, einen Anspruch auf Therapie, sagt Anne Harms von der kirchlichen Hilfsstelle „Fluchtpunkt“. Das gelte auch für Kinder. „Aber wie so viele Richtlinien hat Deutschland auch diese nicht umgesetzt.“

„Fluchtpunkt“ hat darum Ende März eine Kindersprechstunde eingerichtet, in der die Kinder, falls man ihnen nicht selbst helfen kann, wenigstens weitervermittelt werden. „Das sind sehr, sehr komplexe Fälle“, sagt der Pädagoge Arnold Schütte, einer der beiden Mitarbeiter der Kindersprechstunde.

Die andere Mitarbeiterin ist Claudia Oelrich, die mit ihrem Psychologie-Diplom gerade fertig geworden ist.

Kindersprechstunde von „Fluchtpunkt“: montags von 13 bis 18 Uhr, Eifflerstraße 3. Die Sprechstunde ist für Kinder und Jugendliche bis 21 Jahre