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Gemeinsam sichtbar werden

OBDACHLOSIGKEIT Rund 20.000 Straßenkinder gibt es in Deutschland. Einige trafen sich am Wochenende in Buch zu einer Konferenz

„20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen finden keinen Zugang zur Mitte unserer Gesellschaft“

JÖRG RICHTER, KARUNA

VON GESA STEEGER

Ein weißes Partyzelt unter hohen Eichen. Im Inneren: Junge Männer mit bunten Dreads und Jeanskutten neben cool dreinblickenden Mädchengruppen mit schwarz geschminktem Augenaufschlag. Am Eingang ein Schild, auf dem steht: „Die Jugendhilfe und Ich“. Es herrscht Diskussionsstimmung: Wortfetzen fliegen durch die Luft, Stichpunkte werden festgehalten und Forderungen formuliert.

„Mein Name ist Mensch“ – unter diesem Motto findet an diesem Wochenende der erste „Bundeskongress der Straßenkinder“ in Berlin-Buch statt. Organisiert haben die Konferenz das Bündnis für Straßenkinder in Deutschland und der Berliner Verein Karuna – Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not International, der versucht, Kinder von der Straße zu holen.

Gekommen sind 120 Straßenkinder, zwischen 13 und 27 Jahren, aus Hamburg, Dresden, Gera und anderen deutschen Städten. Ihr gemeinsames Ziel ist es, gehört zu werden – von Politik, Justiz und der Gesellschaft. Ihre Themen: Geld, Jugendhilfe, Wohnraum, Medien und Justiz. Diskutiert wird in Workshops, am Ende der Konferenz wollen die Teilnehmer ihre Forderungen der Familienministerin Manuela Schwesig (SDP) übergeben.

„Es geht uns vor allem um Sichtbarkeit“, erklärt Jörg Richter das Anliegen der Konferenz. Er ist einer der Geschäftsführer von Karuna. Gemeinsam mit seinen Kollegen hat er das Treffen organisiert, die vereinseigene Montessorischule zum temporären Konferenzzentrum umgebaut, für Anreise, Verpflegung und Unterbringung der Teilnehmer gesorgt. Er schätzt, dass etwa 20.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland auf der Straße leben oder dort ihren Lebensmittelpunkt haben, davon rund 1.000 in Berlin.

Einer von diesen 1.000 ist Nico. Der 16-Jährige, braune Haare, breites Grinsen, Typ Mädchenschwarm, sitzt auf einer Bierbank im Hof der Montessorischule, raucht und lauscht dem Stimmengewirr aus dem Partyzelt. Gerade geht es um die Frage, ob und wie die Jugendhilfe Straßenkindern helfen kann.

„Die Jugendhilfe ist oft nutzlos“, findet Nico. Seit er zehn Jahre alt ist, lebt er mal hier, mal da. Pendelt zwischen Kinderheim, Freunden und seiner Mutter. 38 verschiedene Einrichtungen hat er von innen gesehen, erzählt er. Richtig wohl gefühlt habe er sich bei keiner, und „helfen konnten die mir auch nicht“. Wenige Betreuer, wenig Zeit, zu viele Kinder und Jugendliche. Das sei Standard in den Einrichtungen, sagt der Jugendliche. Momentan lebt er bei einem Nachbarn seiner Mutter. Ein eigenes Zimmer hat er dort nicht. „Aber egal“ – das sei „immer noch besser als zu Hause.“

Gewalt, Drogen, Probleme in der Familie, ein Leben im gesellschaftlichen Abseits. Das sei Alltag für viele Straßenkinder, so beschreibt es Jörg Richter. „20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland finden keinen Zugang zur Mitte unserer Gesellschaft.“

Das größte Problem sei, so der Sozialpädagoge, der Mangel an Hilfsangeboten: „Die Mitarbeiter in den Jugendämtern und die Kommunen sind überfordert, die Koordination zwischen den Ämtern funktioniert nicht.“ Viele Straßenkinder seien im Alltag auf sich allein gestellt und scheiterten.

Nico ist nicht gescheitert – im Gegenteil: Gerade hat er seinen Hauptschulabschluss mit der Note 1,0 absolviert. Im nächsten Jahr möchte er eine Ausbildung als Koch anfangen. Die Konferenz und die Workshops sieht Nico vor allem als Möglichkeit, sich mit anderen Straßenkindern auszutauschen. Warum bist du auf die Straße gekommen? Was sind deine Erfahrungen? Was ist mit deiner Familie? „Wir haben hier alle irgendwie ähnliche Probleme“, sagt Nico und deutet mit einem Kopfnicken in Richtung Zelt. „Das schweißt zusammen.“

Etwa zwei bis drei Jahre intensiver Betreuung brauche es, um ein Straßenkind wieder auf die richtige Bahn zu lenken, erzählt Richter. Wichtig dabei sei vor allem der intensive Kontakt zwischen Betreuer und Schützling. Einzelfallhilfe sei das Stichwort, sagt der Karuna-Geschäftsführer: „Betreuung so lange und intensiv wie nötig.“ In Dänemark sei das an der Tagesordnung, sagt Richter. Deutschland hinke da leider hinter her.

Ziel der Straßenkinder-Konferenz sei es, auf diese Mängel aufmerksam zu machen, sagt Richter und rattert seinen Forderungskatalog herunter: „Wir brauchen Wohnungen für die Jugendlichen. Wir brauchen mehr Sozialarbeiter und mehr Koordination zwischen den verantwortlichen Stellen.“ Dabei sei vor allem das Bundesministerium für Familie gefragt, sagt Richter. Mehr zentrale Stellen seien nötig, um die Arbeit zu koordinieren. Es könne nicht sein, dass sämtliche Probleme nur auf die Kommunen abgeschoben würden.

Nico hat jetzt seine Zigarette aufgeraucht und macht sich auf, um an der Diskussionsrunde teilzunehmen. Für die Zukunft hofft er auf einen Ausbildungsplatz und eine Wohnung. Und auf mehr Hilfe für diejenigen unter den Straßenkindern, die es noch nicht geschafft haben.

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