: 500 Jahre Seniorenteller
Revolution in Baden-Baden: In der „Laterne“ gibt es plötzlich ein neues Altenfutter
Baden-Baden, die Kurstadt ohne Kurgäste, das sympathische Spieler-Eldorado im Nordschwarzwald, Schauplatz einer krisensicheren Multikultur unter Millionären, feiert in diesen Tagen 500-jähriges Stadtjubiläum. Viel wird geschrieben über die Eleganz des Kurparks, die literarische und balneologische Tradition des ruhmreichen Weltdorfes. Manche schwärmen von den guten Restaurants, den traditionsreichen Hotels. Doch die wirklich wichtigen Institutionen in Baden-Baden werden nicht erwähnt.
Dabei fällt das Haus, das als Symbol für alles Mögliche herhalten kann, jedem Besucher sofort auf. Im Herzen der schmucken Flaniermeile, die ansonsten von prunkvoller Bäderarchitektur aus Zeiten der Belle Époque geprägt ist, wirbt ein Hotel mit Fachwerkflair und grün-rotem Schwarzwaldplüsch, und zwar ganz offensichtlich um jene Gäste, für die Lobpreisungen auf die „gediegene Atmosphäre“ und ein „rustikales Ambiente“ keine Aufforderung zur Flucht bedeuten.
Die Herberge heißt „Alte Laterne“ und der Name hat durchaus Berechtigung. Die „Laterne“ ist in einem 300 Jahre alten Haus untergebracht, was man allerdings wegen der touristenkompatiblen Aufhübschung nicht mehr nachvollziehen kann. Doch der Laden hat durchaus etwas zu bieten. Als ich vor gut zehn Jahren zum ersten Mal durch Baden-Baden schlenderte, sah ich am Eingang der „Laterne“, zu der auch ein Gasthaus gehört, ein großes Schild, auf dem unter der Überschrift „Seniorenteller“ geschrieben stand: „Heute: Jägerschnitzel!“
Wenn mich meine Liebste nicht abgehalten hätte, wäre ich in die „Laterne“ gegangen und hätte einen Seniorenteller bestellt – damals war ich gerade mal 25 Jahre alt. Aber warum sollten nur die Alten in den Vorzug eines verbilligten Jägerschnitzels kommen, argumentierte ich, außerdem wollte ich wissen, wie solch ein Altengericht serviert wird. Tatsächlich in kleineren, fett- und salzärmeren Portionen?
Schon vor der hysterischen Vergreisungsdebatte, die bekanntlich dazu dient, die Pfründe der Alten zu sichern, genossen die Senioren kaum übersehbare finanzielle Vorteile. Ein Studententeller wurde und wird bis heute in der „Laterne“ nicht angeboten.
Mittlerweile weiß ich, dass der Seniorenteller so seniorenfreundlich auch wieder nicht ist. Denn was soll man von einem Wirt halten, dem jahrelang zum Thema Rentnerfutter nichts Besseres einfällt als „Heute: Jägerschnitzel“. Ich habe so manchen Kurstädter gefragt, ob in all den Wochen und Monaten nur ein einziges Mal ein alternativer Seniorenteller angeboten wurde. Nein, immer Jägerschnitzel.
Der Wirt scheint sein Publikum gut zu kennen. Die Terrasse der „Laterne“ war und ist immer gut besucht. Und es sitzen dort inzwischen nicht nur Senioren! Kegelbrüder aus Wuppertal, die das Rentenalter bestimmt noch nicht erreicht haben, verkehren in der „Laterne“, und wie ich mittlerweile auch weiß, verlangen die Serviertöchter, was den Seniorenteller anbelangt, keinen Altersnachweis. Die allgemeine Frühvergreisung beginnt eher als befürchtet. Wahrscheinlich sind die Damen und Herren „Laternen“-Gäste sogar froh, dass sich bei all dem Wandel in der Welt eines nicht ändert, nämlich der Seniorenteller … – aber da haben sie die Rechnung ohne den „Laternen“-Wirt gemacht.
Nach zehn Jahren Jägerschnitzel wurde der Seniorenteller plötzlich geändert. Nun gab es nicht mehr Jägerschnitzel, sondern Schweinsbraten. Ich konnte kaum glauben, was ich sah, hielt den Wechsel für den Scherz eines Azubis und kontrollierte den Aushang eine Woche später erneut. Die Seniorentellerwelt war aus den Fugen, denn nun gab es nicht nur einen Seniorenteller, sondern gleich zwei. Neben dem Schweinsbraten auch noch Leberknödel.
Was war geschehen? Hatte der Koch in der „Laterne“ gewechselt? Auf der Homepage der „Laterne“ gibt es keinerlei Informationen zu diesen Seniorentellersensationen, stattdessen aber einen Link zu „Busgruppenanfragen“. Bevor ich mich mit dem Erfolgsrezept Seniorenteller und der demografischen Katastrophe beschäftigt habe, war mir dieser Terminus nicht bekannt: Busgruppenanfragen. Verändert sich auch die Sprache, wenn die Gesellschaft überaltert?
Das Restaurationskonzept der „Laterne“ wirft ohnehin sehr wichtige Fragen auf: Wird es in 30, 40 Jahren, wenn ich in Rente gehe, noch immer Seniorenteller geben? Wie sähen die dann aus? Wer aus meiner Generation wird sich eines Tages Busgruppen anschließen? Und nach Baden-Baden fahren, um in der „Laterne“ zu speisen? CARSTEN OTTE