: Fragen und Hoffnungen
OPEN-HOUSE-FESTIVAL Im geschichtsträchtigen Jerusalem waren am Wochenende architektonisch bedeutsame Gebäude erstmals seit dem Gaza-Krieg frei zugänglich. Das Kulturleben kommt wieder in Gang. Der künstlerische Austausch zwischen Israelis und Arabern ist wichtig
VON PHILIPP EINS
Auf den ersten Blick hat sich das Leben in Jerusalem kaum verändert: Dichter Verkehr schiebt sich durch die Straßen der westlichen Innenstadt, vorbei an mehrgeschossigen sandfarbenen Kalksteinhäusern und sommergrünen Parks, in denen Eltern mit ihren Kindern spielen. Cafés und Restaurants sind gut besucht, die Stimmung unter den Gästen wirkt entspannt.
Vergangenen Monat war das noch ganz anders: Der Krieg zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas im 90 Kilometer entfernten Gazastreifen lähmte den Alltag auch in Jerusalem. Einwohner blieben in Reichweite der Luftschutzbunker, Urlauber aus Europa und den USA stornierten ihre Flüge. Der Tourismus in Israel brach im Sommer um 40 Prozent ein. Das hatte auch Folgen für die Kunst- und Kulturszene: Museen und Galerien blieben zu großen Teilen leer.
Bedeutsame Dachgärten
Drei Wochen nach der Waffenruhe sollte das „Open House Festival“ nun wieder Kulturinteressierte aus aller Welt nach Jerusalem locken. Rund 120 architektonisch bedeutsame Privathäuser und Synagogen, Dachgärten und Ausgrabungsorte waren an diesem Wochenende geöffnet – und zwar bei freiem Eintritt.
Archäologen führten durch die ansonsten streng verschlossene Grabungsstätte unter der Davidszitadelle, einem der Wahrzeichen der Stadt. Und die Architektin Bracha Chyutin gewährte Einblick in den neuen, von ihr entworfenen Campus im Van-Leer-Institut für Israelstudien, der sich geradezu organisch in die umliegende Parklandschaft westlich der Altstadt fügt.
Die Idee eines solchen Festivals stammt ursprünglich aus Großbritannien: 1992 öffneten in London zum ersten Mal einige der architektonisch interessantesten und historisch bedeutsamsten Gebäude ihre Türen für die Öffentlichkeit. Der Architekt Alon Ben Nun brachte das Konzept 15 Jahre später gemeinsam mit seiner Frau Aviva Levinson nach Jerusalem. In einer so geschichtsträchtigen Stadt entwickle ein Architekturfestival eine ganz besondere Kraft, meint er: „Die Überlagerung architektonischer Stile aus allen historischen Epochen – das ist wirklich einzigartig.“
Ausgrabung im Keller
Ben Nun erinnert sich an einen Kaufmann in der Altstadt, der den Keller in seinem Laden ausbauen wollte. Er begann zu graben – und stieß durch Zufall unter seinem Haus auf über 2.000 Jahre alte architektonische Relikte. „Das ist Jerusalem“, sagt Ben Nun. „Hier gibt es viele Schätze zu entdecken.“
Während Alon Ben Nun und sein Team mit dem „Open House Festival“ so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren wollen, befürchtet der Künstler und Friedensaktivist Itay Mautner, dass der vergangene Gazakrieg unsichtbare Spuren in der israelischen Gesellschaft hinterlassen hat. Mautner ist Direktor des Jerusalemer Kultursommers, eines der bekanntesten Festivals der Stadt. Das Programm mit Ausstellungen, Performances und Lesungen musste er dieses Jahr absagen. Zu groß war noch im August die Gefahr durch Raketenbeschuss von der Hamas. „Seit Beginn des Waffenstillstands ist Jerusalem wieder belebter, die Menschen besuchen endlich Museen und Ausstellungen, die Stimmung ist gut – aber nur oberflächlich“, sagt Mautner.
„Etwas hat sich in der Stadt grundlegend verändert: Die Grenze zwischen Ost- und Westjerusalem ist plötzlich wieder sehr präsent.“ Während des Gazakrieges gab es kaum noch Austausch zwischen Israelis und Palästinensern, berichtet er. Nicht mal unter den Künstlern. Gerade sie müssten sich doch dafür einsetzen, dass die Bereitschaft zum Dialog in der Stadt nicht weiter abnimmt.
Um einen solchen Dialog bemüht sich die Künstlerin Rinat Edelstein seit vielen Jahren. Auf ihrem Manofim-Festival, an dem auch in diesem Oktober wieder rund 50 Galerien und Kulturinstitute teilnehmen, zieht sie durch die Jerusalemer Stadtbezirke, um dort zeitgenössische Malerei und Video-Performances lokaler Künstler auszustellen. Sie würde gerne mit Malern aus dem Osten der Stadt zusammenarbeiten – aber das ist nicht so einfach.
Angespanntes Verhältnis
„In der bildenden Kunst gibt es kaum Kontakt zwischen israelischen und palästinensischen Künstlern, das Verhältnis ist sehr angespannt“, sagt Edelstein. Ihre Einladungen, am Manofim-Festival teilzunehmen, wurden von palästinensischer Seite stets abgelehnt. Die Künstler wollten nicht mit Institutionen zusammenarbeiten, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Die israelische Stadtverwaltung Jerusalems stuften viele als Besatzungsmacht ein, sagt Edelstein. Eine größere Offenheit für gemeinsame Aktionen gibt es bislang nur in der Musikszene.
Tatsächlich konnte sie israelische und palästinensische Musiker dazu bewegen, zur Eröffnung des Manofim-Festivals einen gemeinsamen Auftritt am Damaskustor nördlich der Altstadt zu geben. Und auch Itay Mautner setzt bei seinen künstlerischen Aktionen verstärkt auf die Musik. Kurz nach Inkrafttreten des Waffenstillstands Ende August ließ er das seit Langem geplante Jerusalem Sacred Music Festival stattfinden – und brachte sogar den Rabbiner und Sänger Haim Louk dazu, gemeinsam mit dem muslimischen Orchester Chabab Al Andalous aus Marokko aufzutreten.
Immerhin einige hundert Besucher kamen, um das ungewöhnliche Konzert zu sehen. Auch das israelische Fernsehen übertrug den Auftritt. „Mit diesem Festival wollten wir einen Heilungsprozess in Gang bringen“, sagt Mautner. „Jerusalem sollte fünf Tage lang eine offene Stadt für Menschen aus aller Welt sein – egal ob sie Moslems, Christen oder Juden sind.“
Der Erfolg hat ihm Mut für sein nächstes Projekt gemacht, erzählt Mautner. Für die Kampagne „We are here“ ließ er vor wenigen Tagen Plakate in ganz Jerusalem aufhängen, auf denen sich Israelis und Palästinenser in einem säkularen Gebet gegen Gewalt aussprechen. Für ihn entspricht das genau der Aufgabe, die Künstlern in der Stadt zukommt: die Menschen zu ermuntern, innezuhalten – und Fragen zu stellen.
„Im Krieg bleibt kein Platz für solche Fragen. Du hast eine klare Mission: dein Land zu verteidigen“, sagt Mautner. „In der Kunst ist es genau andersherum: Wenn du die Dinge nicht hinterfragst, kannst du nichts Interessantes erschaffen.“ Hier liegt für ihn die Kraft der Kunst: Räume aufzumachen für Komplexität und Vielschichtigkeit. Und nur wo es Fragen gibt, sagt Mautner, da ist auch Hoffnung.
■ Das Manofim-Festival zur Gegenwartskunst findet vom 23. bis 30. Oktober in Jerusalem statt. www.manofim.org