Verschwiegene Verzweiflung

LAKONIK Die bodenlose Einsamkeit ihrer Figuren bricht über den Leser herein wie etwas Reales. Neues von der großen Autorin Paula Fox. Und über sie

Man bekommt nicht etwa den Abgrund erklärt, sondern man fällt mit Schwung selbst hinein

VON SUSANNE MESSMER

Eine Frau fährt mit ihrem Mann in ein entlegenes Tal irgendwo in der US-amerikanischen Provinz, wo die Menschen noch in Erdhäusern leben. Er will noch einmal seinen Vater besuchen, der im Sterben liegt. Seit 23 Jahren hat er ihn nicht gesehen. Die Mutter verlor bei der Geburt des Bruders das Leben. Der Bruder starb kurz darauf. Danach lebten Vater und Sohn wie Nomaden.

Als sie sich zum ersten Mal wiedersehen, sagt der Sohn: „Na … lang ist’s her.“ Darauf der Vater: „Wie ich sehe, werden deine Haare dünn.“

Es folgt ein halber gemeinsamer Tag, an dem nicht viel geredet wird. Der Frau fällt nur auf, wie lächerlich ihr Mann bei der Begegnung mit dem Vater in seinen teuren Kleidern wirkt. Nach ein paar Stunden steigt das Paar wieder in den Wagen. „Er kramte in den Taschen nach Zigaretten und ließ gleichzeitig den Motor an … Sie fuhren eine Weile schweigend dahin.“

So endet eine der stärksten der 17 Geschichten und Essays der tollen Schriftstellerin Paula Fox, die teilweise bereits in den 60er Jahren in den USA erschienen und die erst jetzt unter dem Titel „Die Zigarette und andere Stories“ versammelt worden sind. Paula Fox erzählt, wie sie immer erzählt, wenn sie am besten ist: ohne die Dinge beim Namen zu nennen. Ihre Sprache ist komprimiert. Es gibt nichts, das abgenutzt klingt. Hier wird auch nicht psychologisiert oder moralisiert. Das Innenleben bleibt verschlossen. Die bodenlose Einsamkeit, eine fundamentale, eisige Ob- dach-, Heimat- und Wurzellosigkeit der Figuren bricht über den Leser herein wie etwas Reales. Und trotzdem bewegt man sich mit einer Art Glücksgefühl durch diese schwarzen, lakonischen Bücher. Der Grund: Man bekommt nicht etwa den Abgrund erklärt, sondern man fällt mit Schwung selbst hinein. Alles Weitere muss man sich selbst erklären.

Die Faszination für diese Bodenlosigkeit ist es auch, die Bernadette Conrad zu ihrer empfindsamen Biografie „Die vielen Leben der Paula Fox“ antrieb. Wie aufgeschreckt reist Conrad zuerst nach Brooklyn, wo Paula Fox lebt, dann zu allen Stationen, die in Paula Fox’ Romanen und in ihrem Leben eine Rolle spielten. Sie hat ihr Vorgehen dem Erzählen der Paula Fox angepasst: Es geht nicht darum, die Verzweiflung zu erklären. Es geht um erzählerische Annäherung. Der Leser wird angehalten, sich mit Bernadette Conrad als miterlebende Spurensucherin ein Haus vorzustellen, in dem Paula Fox lebte, einen Schulweg, den sie als Kind ging, oder einen Straßenzug, auf den sie vom Fenster ihrer New Yorker Wohnung blickte. Man erfährt, was Bernadette Conrad empfindet – und da wird das Buch manchmal gefühlig. Das Gute aber ist: Was Paula Fox bei all dem gefühlt haben muss, das bleibt weitgehend ungesagt.

Das Schlüsselerlebnis in Paula Fox’ Leben – dies wissen ihre Leser spätestens seit Erscheinen ihrer Memoiren „In fremden Kleidern“ – war dies: Sie war ungewollt, wurde als Säugling von ihrer Mutter den Schwestern eines New Yorker Findelheims überlassen. Das Seltsame: Die Mutter war da eher glücklich als unglücklich verheiratet, und Hunger leiden musste sie auch nicht gerade. Sie zeigte ihr Leben lang keine Gefühle für ihre Tochter, und der Vater war ein Weiberheld, der viel versprach und nichts hielt. Beide konnten Paula aber auch nicht so konsequent loslassen, dass sie bei ihrem geliebten Ziehvater, dem Pfarrer Elwood Corning, hätte bleiben können. Corning lehrte sie die Lust am Lesen und stellte für sie „einen weiten Raum zur Verfügung, in dem ein Kind sein und werden darf, was es ist“, sagt Bernadette Conrad, die tief bewegt ist von der Verlassenheit ihrer Gesprächspartnerin.

Umso schlimmer, dass Paula Fox als Kind den Pfarrer bald wieder verlassen musste. Sie wurde haltlos, ging zuerst zu ihrer Großmutter, die sie nicht mochte, später nach Kalifornien. Sie gab ihre erste Tochter zur Adoption frei. Erst mehr als vierzig Jahre später lernte sie ihre Tochter Linda kennen, die Mutter von Sängerin Courtney Love, zu der weder Linda noch Paula bis heute in der Lage scheinen, ein Verhältnis aufzubauen.

Apropos Courtney Love, Witwe Kurt Cobains, Vorbild aller Riot Grrrls, fragt man sich an dieser Stelle am Rande: Warum eigentlich wird Paula Fox offenbar selten in Seminaren zur feministischen oder auch postfeministischen Literaturwissenschaft gelesen? An Paula Fox’ Figuren kann es nicht liegen, denn die sind hochmodern – vielleicht auch, weil sie das, was ihnen fehlt, nie wirklich beim Namen nennen. Da ist zum Beispiel Annie Gianfala, die orientierungslose, scheinbar fast teilnahmslose junge Frau aus „Kalifornische Jahre“, und ihre „Irrfahrt durch Jobs, Beziehungen und Notsituationen aller Art“, wie Bernadette Conrad es treffend beschreibt. Eine Figur wie diese, die die Welt so unbegreiflich findet wie sich selbst, könnte problemlos im Szenario der gegenwärtigen Berliner Boheme, des sogenannten Lumpenprekariats, gedeihen.

Oder auch John Hillmann aus „Grace“, einer weiteren eindrücklichen Geschichte aus Paula Fox’ neuem Band. Der sensible und schrullige Hundehalter Hillmann ist entschieden unentschieden, wenn es um Herzensangelegenheiten geht. Und dann kommt das Ende, das wieder so unsagbar lakonisch ist, so offen, so einfach und doch so gemein. Hillmann telefoniert trotz guter Vorsätze, dies nicht zu tun, mit einer Verworfenen. Er vergießt ein, zwei Tränen. Und dann: „Sie standen in ihren Wohnungen, hielten sich an den Telefonhörern fest und versuchten sich zu entscheiden, ob sie sich wirklich wieder sehen wollten.“

Ein Ende, das stark zu nennen untertrieben wäre. Paula Fox ist gerade 88 Jahre alt geworden. Seitdem sie in Israel 1996 von einem Taschendieb niedergeschlagen wurde, wovon sie sich so mühsam erholte wie nach einem Schlaganfall, kann sie sich, wie sie sagt, keine Geschichten mehr ausdenken. Da sind diese nachgereichten bitterbösen Geschichten für alle Fans ein Geschenk, genauso wie es, alles in allem, diese schwärmerische Biografie ist.

Paula Fox: „Die Zigarette und andere Stories“. Aus dem Amerikanischen von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring. Beck Verlag, München 2011. 255 Seiten, 19,95 Euro ■ Bernadette Conrad: „Die vielen Leben der Paula Fox: Ein Porträt“. Beck Verlag, München 2011, 344 Seiten, 19,95 Euro