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Archiv-Artikel

Hermes Baby und das fremde Leben

GEBURTSTAG Über Identitätskrisen schrieb niemand heroischer: eine Einladung, mal wieder Max Frisch zu lesen

Zum 100. Geburtstag: drei Bücher über Max Frisch

■  Die sorgfältige Biografie: Bei Julian Schütt, dem großen Kenner des Werkes, kann man viele Details über die Anfänge des Schweizer Schriftstellers bis zur Fertigstellung des ersten großen Erfolges, „Stiller“, erfahren. Sehr genau, eher fürs Versenken als für einen schnelles Überblick geeignet. Julian Schütt: „Max Frisch – Biografie eines Aufstiegs“, Suhrkamp, Berlin 2011, 592 Seiten, 24,90 Euro

■  Die emphatische Biografie: Volker Weidermann, Feuilletonchef der FAS, hat einen anderen Zugang gewählt; er will für das Werk von Max Frisch begeistern. Oft gelingt es ihm auch. Höhepunkt: Mit Alice Locke-Carey, der Lynn aus „Montauk“, fährt Weidermann noch einmal an den Schauplatz der Erzählung. Volker Weidermann: „Max Frisch – Sein Leben, seine Bücher“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 406 Seiten, 22,95 Euro.

■  Der große Bildband: Seine Häuser und Wohnungen, seine Ehefrauen und Partnerinnen, seine Pfeife und seine Anzüge: Unmengen von Fotos gibt es zu Max Frisch. Volker Hage, Spiegel-Literaturredakteur und großer Frisch-Kenner, hat sie alle gesammelt. Volker Hage: „Max Frisch – Sein Leben in Bildern und Texten“. Suhrkamp, Berlin 2011, 259 Seiten, 24,90 Euro

VON DIRK KNIPPHALS

Seine hohen Auflagenzahlen. Die hartnäckige Liebe der Deutschlehrer zu ihm. Sein Talent, immer zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein: gleich 1946 in Deutschland, in den Fünfzigern in den USA, in den frühen Sechzigern (mit Ingeborg Bachmann) in Rom, in den Siebzigern in Berlin und New York. Max Frisch, drängt sich einem auf, hat zeitlebens immer wieder Glück gehabt.

Irgendwie auch jetzt wieder. Denn, alles in allem, würde der 1991 gestorbene Schweizer Schriftsteller jetzt, am 15. Mai, zum richtigen Zeitpunkt hundert Jahre alt. Die deutschsprachige Nachkriegsliteratur ist weit genug in die Ferne gerückt, um einmal ohne jede Verabschiedungsaufgeregtheiten dem nachzuspüren, was die Gegenwart von ihr trennt. Zugleich aber sind viele literarische Themen, die Max Frisch umtrieben, weiterhin nah. So kann man etwas Interessanteres als Jubelfeiern oder Denkmalstürze angehen. Man kann differenzieren.

Was einen inzwischen von Max Frisch trennt, sieht man am besten am „Homo faber“, seinem allergrößten Erfolg. Aus Anlass des Jubiläums noch einmal gelesen, erweist sich diese Rollenprosa über ein fundamental verfehltes Leben vor allem als Roman der vielen Ausrufezeichen. Dieses pathetische Satzzeichen zerhackt den Text auf beinahe jeder Seite. Auch in einem übertragenen Sinn ist das Buch voller Ausrufezeichen. Da gibt es die Schreibmaschine vom Typ „Hermes Baby“, die Notlandung in einem Flugzeug der Marke Super Constellation, den Gegensatz zwischen dem Dschungel von Guatemala und dem Apartment in New York. Und auf der anderen Seite gibt es das archaische Inzest-Thema, die Griechenland-Episoden und, zu allem Überfluss, auch noch den mythischen Schlangenbiss, an dem die Tochter und Geliebte der Hauptfigur operngleich stirbt.

Das sind Modernitätsmarker und sonstige schwere Zeichen ohne Ende. Man kann sich heute durchaus noch vorstellen, mit welcher Wucht diese alle Idyllik und Wirtschaftswunder-Biedermeierlichkeit wegwischende Prosa 1957 – das war noch zwei Jahre vor der „Blechtrommel“ – in die bundesrepublikanische Nachkriegsszene hineingerauscht ist. Ein „Heimweh nach der Fremde“ hat Max Frisch in seinem „Tagebuch 1946–1949“ bei sich selbst konstatiert. Offenbar hatten viele Menschen dieses Gefühl. In „Homo faber“ konnte man ihm, effektvoll aufgeschrieben und tragisch grundiert, prima nachgeben.

Dass das Buch aber längst wie aus einer Vorzeit zu uns hinüberweht – wie auch „Stiller“ und „Mein Name sei Gantenbein“, die anderen beiden großen Romane –, liegt nicht allein daran, dass all diese Zeichen inzwischen beinahe rührend altmodisch wirken. Vor allem liegt es an der Anlage der Hauptfiguren. Bis zur Überdeutlichkeit werden sie angetrieben von ihren beiden Grundmotiven: sich ständig neu entwerfen zu wollen und nicht mit sich identisch sein zu müssen (der berühmte erste Satz, mit dem Max Frisch 1954 endgültig die Bühne der deutschsprachigen Literaturszene betritt: „Ich bin nicht Stiller!“). Der Punkt ist nun keineswegs, dass diese Themen inzwischen überholt wären. Im Gegenteil. Sie sind Allgemeingut geworden. Max Frisch aber schreibt sie in den großen Romanen noch als Außenseiter- und Heldengeschichten auf.

Ohne Botschaft leben

Identitätsprobleme sind bei Max Frisch heroisch aufgeladen. Das ist der Hauptpunkt, der einen von diesen Romanen trennt. Bei einem Soziologen wie Jean-Claude Kaufmann kann man gut nachlesen, dass die Suche nach der eigenen Identität längst zu dem entscheidenden biografischen Antriebsmittel in der individualisierten Gesellschaft geworden ist. Vor allem: zu einem allgemein üblichen Antriebsmittel. Wer man sein möchte und wer man nicht sein möchte, das fragt sich inzwischen ein jeder jederzeit. Max Frisch aber macht in den Romanen noch ein großes Ding draus, mit existenziellen Gefängnissituationen (wie in „Stiller“) oder Verhängnisszenarien, die bis in die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs zurückreichen (wie in „Homo faber“).

Wahrscheinlich ist es diese Heroik der Außenseiterposition, die den Mainstream der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur insgesamt in die Ferne rücken lässt. Wie viel zeitgemäßer klingt doch, nur ein Beispiel, etwa der US-Autor Richard Yates in seinem nur vier Jahre nach „Homo faber“ erschienenen Roman „Zeiten des Aufruhrs“. Die Schwierigkeiten bei dem Unternehmen, sich selbst zu erfinden, hat Yates in den Alltag eines ganz normalen Vorstadt-, Ehe- und Angestelltenlebens übersetzt. Das hat Max Frisch nie hingekriegt, auch in seinen autobiografisch grundierten Büchern nicht. An den Problemen der Ichfindung leiden dürfen bei ihm nur die männlichen Hauptfiguren (die stets so alt sind wie Max Frisch selbst zum Zeitpunkt der Niederschrift).

Es existiert aber auch ein anderer Max Frisch, und das ist ein Autor, der einem heute noch nah sein kann. Ihm kann man am besten in „Montauk“ begegnen, dieser 1975 erschienenen, 200 großzügig bedruckte Seiten schmalen Erzählung über ein Liebeswochenende in einem amerikanischen Urlaubsort, die sich nun beim Wiederlesen wirklich wieder als Juwel erweist.

Zwar gibt es keinen Grund, die autobiografischen Hintergründe des Buches – eine Affäre mit der über dreißig Jahre jüngeren Verlagsfrau Alice Locke-Carey – irgendwie zu verbrämen. Aber was Max Frisch literarisch daraus macht, ist großartig. Nicht nur, weil hier jede Heroik fehlt. Nicht nur, weil Max Frisch in dieses Wochenende autobiografische Lebensreflexionen einfließen lässt, die von einer Gelassenheit jenseits aller Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber sind (zu Ingeborg Bachmann: „Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht“). Sondern vor allem, weil Max Frisch Stimmungen und Szenen aufscheinen lassen und einfach stehen lassen kann.

Der Spaziergang durch die Dünen, bei dem das Paar das Meer nicht findet. Das abendliche Essen im Restaurant am Meer. Das Autofahren in den USA und in Europa. Die Reflexionen über die Eifersucht. Das ist ein Max Frisch, der nichts beweisen muss. Er sei „ohne Botschaft“, heißt es an einer Stelle und trotzig weiter: „Er hat keine und lebt trotzdem.“ Schön auch die Stelle, an der er sich gegen Verlautbarungen wendet, nach denen die Liebe in der Literatur in allen Varianten ein für allemal dargestellt sei. „Sie verkennen, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sich ändert, dass andere Liebesgeschichten stattfinden werden.“ „Montauk“ ist ein Buch, das mit viel Ehrlichkeit geschrieben ist. Das vor allem ohne Ausrufezeichen geschrieben ist. Und mit großer Neugier den eigenen Erfahrungen gegenüber.

Das ist jetzt nicht nur die Altersmildheit und Souveränität eines Autors von Mitte sechzig, der berühmt ist, finanziell mehr als abgesichert und alles erreicht hat. Es hat diesen anderen Max Frisch, den Max Frisch der Collagen und der ehrlichen Selbstbefragungen, natürlich immer gegeben, und man findet ihn überall in seinem Werk, wenn man den Rahmen der großen Romane und auch der Theaterstücke nur etwas beiseite schiebt.

Ein intensives Leben

Schon in seinem „Tagebuch 1946–1949“ ist alles da. „Schreiben heißt: sich selbst lesen“ steht da. Und anlässlich einer Theaterinszenierung notiert Frisch: „das Fremdeste, was man erleben kann, ist das Eigene einmal von außen gesehen“. Dieser Satz ist ihm dann zum Lebensthema geworden. In seinen Romanen hat er die Erschütterungen dieser Erkenntnis verzeichnet, auf deren Pathos aber inzwischen halt der Staub liegt. In seinen Tagebüchern und späten Erzählungen (neben „Montauk“ vor allem noch „Der Mensch erscheint im Holozän“) hat er den Satz aber konsequent angewendet: Er hat sich selbst fremd gemacht. Das ist viel zeitgemäßer. Denn es holt einen bei der Erkenntnis ab, dass zu einem intensiven Leben ganz selbstverständlich auch dazugehört, über das eigene Leben nachzudenken. Max Frisch, dessen Biografie im Grunde als ständiger Wechsel zwischen Verliebtheit und Lebenskrise angelegt war, hat weiß Gott ein intensives Leben gehabt. Und Hermes Baby ist immer mit dabei gewesen.

Was also nun mit diesem Werk tun? Ein Vorschlag wäre: den heroischen Max Frisch ruhig im Bücherregal in die zweite Reihe stellen. Er gehört zur Nachkriegsgesellschaft, so wie Dalí-Drucke und die exotischen Schauplätze früher „James Bond“-Filme zu ihr gehören. Den Max Frisch der Selbstbefragungen aber, den Autor, der seine Erfahrungen teilen möchte, weil er sich selbst fremd wird, den lohnt es, immer wieder neu zu entdecken. Je selbstverständlicher er sich fremd wird, desto näher kommt er einem.