Zuckerfrisuren, Rehblicke, Delfinkostüme
FAVOURITEN UND FLOPS Am Samstag ist das Finale des Eurovision Song Contests. Die Finalisten im Überblick
■ Wann und wo: In der Arena Düsseldorf, ab 21 Uhr Live-Übertragung in der ARD. Kommentar: Peter Urban
■ Die Regeln: Jedes Land gibt eine Wertung ab, die sich hälftig aus Jury- und Televoting-Stimmen ergibt
■ Favoriten: Finnland, Österreich, Deutschland, Aserbaidschan
■ Letzter Platz? Ukraine, Italien, Spanien, Schweden
■ taz-affin: Finnland, Dänemark, Italien
VON JAN FEDDERSEN
UND IVOR LYTTLE
1. Finnland. Paradise Oskar: Da Da Dam. Ein schüchterner junger Mann, die Nicole des Jahres, singt für eine bessere Welt und gegen Umweltverschmutzung. In Blond und mit apartem Augenaufschlag. Im Favoritenkreis.
2. Bosnien & Herzegowina. Dino Merlin: Love In Rewind. Ein älterer Mann, der sich in der Rockszene Sarajewos verdient gemacht hat, kommt mit einem balkanesischen Sehnsuchtslied. Prima Kontrapunkt zu allem Überschlichtem.
3. Dänemark. A Friend In London: New Tomorrow. Jungs aus der Nähe Kopenhagens, die alle jungen Menschen der Welt auffordern, eine gute, ja, gerechte Welt zu schaffen. Stadionklassiker nach dem Katrina-& -The-Waves-Muster. Gute Laufleistung des Leadsängers in der Halle!
4. Litauen. Evelina Sasenko: C’est ma vie. Die klassische Grand-Prix-Ballade – eine Nostalgieshow, dargeboten von einer nicht besonders vorteilhaft gekleideten Halbsoubrette aus Vilnius. Ihr Blick ist so lieb!
5. Ungarn. Kati Wolf: What About My Dreams. Die Jennifer Rush der Puszta, die CSD-Krachernummer des Abends. Muss leider aus politischen Gründen abgelehnt werden: Sie ist eine von Gnaden Viktor Orbáns!
6. Irland. Jedwards: Lipstick. Zwillinge, die sich die Haare mit fair gehandeltem braunen Zucker auftürmen und einen leicht enervierenden Refrain rund um Lippenstift grölen. Punktabzüge muss es für ihre grellroten Jäckchen geben. Sonst tadellos.
7. Schweden. Eric Saade: Popular. Das Land, das traumatisiert im vorigen Jahr den Weg ins Finale nicht schaffte, gelang mit dieser tänzerisch-nervösen Nummer der Einzug in die Endrunde. Er zerschlägt am Ende Glas: gefallsüchtiger Langweiler.
8. Estland. Getter Jaani: Rockefeller Street. Nein, das ist keine aus dem Kinderprogramm, sie hat die Erlaubnis, mit diesem kleinen schmutzigen Diskoliedlein piepsig zu trällern. Ihre Tänzer sind auch nicht gerade die Krone der Showshöpfung – aber was soll’s: Auch sie wird man bei CSDs wiederhören.
9. Griechenland. Loucas Yiorkas feat. Stereo Mike: Watch My Dance. Frauen, die auf mediterrane Leckereien halten, erkannten in ihm die ESC-Delikatesse überhaupt. Er sieht aus wie eine Mischung aus George Clooney und Alexis Zorbas. Der musikalische Rest spielt doch keine Rolle.
10. Russland. Alexej Vorobjov: Get You. Fönfrisur aus Moskau, kann turnen, beleidigt gern mit vulgären Worten Frauen wie Anke Engelke – und findet sich wahnsinnig komisch dabei. Nervbolzen, der aber offenbar die Empfindungen des jungen russischen Publikums trifft.
11. Frankreich. Amaury Vassili: Sognu. Nichts gegen lange Haare, aber gepflegt müssen sie sein. Ein Mann, der mit Chow-Chow-Mähne eine Art Arie singt, die wiederum von vielen Musicalfreunden goutiert werden dürfte. Angeblich favorisiert.
12. Italien. Raphael Gualazzi: Madness Of Love. Was für Menschen, die sagen: „Nichts gegen Schlager, aber mit Anspruch.“ Diesmal ein Angebot im Swingstil: Er hat wirklich ein schönes Couplet am Klavier vorzutragen. Paolo Conte für Nichtarrivierte.
13. Schweiz. Anna Rossinelli: In Love For A While. Eine Eidgenössin im mauvefarbenen Paillettenensemble, die ein munteres, nicht überheiztes Liedlein singt. Absolut geeignet für höhere Punktwerte.
14. Vereinigtes Königreich. Blue: I Can. Boygroup-Stampfnummer, die von Simon Webbes Sonderausflügen auf der Bühne lebt und angeblich von Kate & Williams mp3-Player dauernd abgenudelt wird. Die Gruppe möge nicht im Sumpf der hinteren Ränge verschwinden, denn sie geben sich echt jede Mühe.
15. Moldawien. Zdob si Zdub: So Lucky. Die Hüte verdienen Extralob, der Song selbst ist laut und dennoch behaglich anzuhören. Die Gruppe aus Cisinau ist die netteste Band des Abends. Musik für den Clubabend ohne kommunikative Ansprüche.
16. Deutschland. Lena: Taken By A Stranger. Sie ist gut, muss nichts gewinnen, wäre vermutlich nur über einen allerletzten Platz besorgt. Die Inszenierung dieses dräuenden Elektrosongs ist überragend: Er verliert durch die Tänzerinnen in Delfinkostümen gar nichts, im Gegenteil.
17. Rumänien. Hotel FM: Change. Handgestrickte Liedermachernummer mit erheblicher Instrumentenbegleitung. Feine Vokalisen, hübsche Kostüme, nette Gesten – das verdient Aufmerksamkeit.
18. Österreich. Nadine Beiler: The Secret Is Love. Große Gefühle einer höchstens 149 Zentimenter hohen Frau – und das mit einer Pulp-Fiction-Frisur. Vokale Höchstleistung, wobei ihre Nervosität der Nummer noch eine Spur Grazie verleiht.
19. Aserbaidschan. Ell & Niki: Running Scared. Ein kaum jungerwachsener Sänger mit Rehblick und eine zehn Jahre ältere, sehr reife Frau singen sich in einen sphärischen Rausch, der absolute wohlig und fein sich anhört. Engerer Favoritenkreis.
20. Slowenien. Maja Keuc: No One. Dramatische Diven im ersten Lehrjahr können in dieser Frau aus Ljubljana ihre Meisterin finden. Denn sie erleben an ihr, wie man mit einem mäßigen Ballädlein außerordentliche Bühneneffekte erzielen kann.
21. Island. Sjonni’s Friends: Coming Home. Rudel mittelalter Männer, die ihren Freund Sjonni im Himmel besingen. Der schrieb dieses fein altmodische Lied – starb aber kurz vor Islands Vorentscheidung. Sehr berührend, wenn Männer weinen!
22. Spanien. Lucía Pérez: Que me quiten la bailao. Musikalisches Urlaubsfutter, das von allen für den letzten Platz vorhergesagt wird. Kaum glaubhaft: Man kann dazu am erwärmten Abendstrand prima tanzen.
23. Ukraine. Mika Newton: Angel. Es geht um Kinder, kleine Hände, die man nicht brechen soll – und eine Sängerin, die alles Leid ihres Lebens in drei Minuten zu einer wimmernden Geschichte aufbläst. Außenseiterin, zu Recht.
24. Serbien. Nina: Caroban. Stylische Belgraderin, die in einer Deko aus Seventies-Farben ein quickes Popnümmerchen darbietet. Extragutgelaunter Sound. Mittelfeldverdächtig.
25. Georgien. Eldrine: One More Day. Die Rocknummer des Abends, dargeboten von einer Band aus Tiflis, der Geburtsstadt des Russo-Rock. Sehr lärmend, dennoch eher vorbeirauschend.
■ Jan Feddersen, taz-Redakteur und freier NDR-Mitarbeiter, verfolgt mit Ivor Lyttle, Herausgeber des Fanmagazins EuroSong News, seit 1999 den Eurovision Song Contest