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Archiv-Artikel

Orientierungslos, ratlos, liberal

LIBERALISMUS Die große Zeit der FDP liegt dreißig Jahre zurück. Seitdem fehlt ihr jede Programmatik. Heute schützt sie Apotheker, niedergelassene Ärzte und Unternehmer vor unliebsamer Konkurrenz

VON MATTHIAS LOHRE

Feigheit kann man Christian Lindner nicht vorwerfen. Kurz vor der Wahl eines neuen FDP-Vorsitzenden hat der Generalsekretär die Frage gestellt, die sich angesichts des Niedergangs der FDP viele Beobachter stellen: „Wozu Liberalismus?“ Unter dieser Überschrift skizzierte Lindner in einem Beitrag für die FAZ vom vergangenen Montag, was jene Partei, die sich als Hüterin des Liberalismus ausgibt, eigentlich noch will – genauer, warum sie noch jemand wählen soll.

Obwohl die FDP mittlerweile 63 Jahre alt ist, greift Lindner auf kein einziges identitätsbildendes Ereignis der Parteigeschichte zurück. Stattdessen muss Adam Smith, Schöpfer der Theorie von der „unsichtbaren Hand des Marktes“, zur Begründung des Liberalismus herhalten. Smith war Schotte und starb 1790.

Das Dilemma der FDP: Seit den achtziger Jahren verkümmerte ihre Programmatik, bis nur noch die Forderung „Mehr Netto vom Brutto“ übrig war. Als diese uneingelöst blieb, demontierte die FDP ihren Vorsitzenden. Nun hat die Partei kein Thema und auch kein Image. Die FDP ist ratlos.

Bei der Suche nach Inhalten wird Lindner beim Datenschutz fündig, allerdings haben dieses Thema schon die Grünen besetzt. Die Förderung frühkindlicher Bildung erklärt der Generalsekretär mit der „Stärkung von Persönlichkeiten“. Doch mit unterschiedlichen Begründungen plädieren inzwischen alle Parteien für mehr Geld für die Kleinsten. Die FDP kommt zu spät.

Diese Ratlosigkeit hat viele Gründe. Auf die Frage, was Liberalismus in Deutschland ausmacht und wofür er streiten soll, hat die FDP nie eine Antwort gefunden. Das Problem der Partei ist älter als sie selbst. Ihre Vorgänger bieten der FDP bei ihrer Suche auch keine Orientierung. In der Weimarer Republik rückte die national-liberale Deutsche Volkspartei nach dem Tod ihres Vordenkers Gustav Stresemann nach rechts und versuchte kurz vor ihrem Ende, sich bei den Nazis anzubiedern. Die linksliberale Deutsche Staatspartei bestand nur drei Jahre und war bei ihrem Ende 1933 nur noch mit fünf Abgeordneten im Reichstag. Sie stimmten für Hitlers „Ermächtigungsgesetz“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Partei von unten nach oben. Erst drei Jahre nach Kriegsende fanden ihre regional unterschiedlichen Teile in der Freien Demokratischen Partei zusammen. Die Frage der deutschen Einheit beschäftigte auch sie. „Im Unterschied zur SPD jedoch war die nationale Ausrichtung der FDP in einigen Regionen jedoch mehr braun als schwarz-rot-gold gefärbt.“ So schreibt es der Potsdamer Politologe Jürgen Dittberner, selbst Parteimitglied, in seiner Chronik „Die FDP“.

In den ersten Jahrzehnten verstand sich die Partei im Kontrast zum Koalitionspartner CDU/CSU als Garantin der Trennung von Staat und Kirche. Doch der Einfluss der Kirchen ist geschwunden. Heute fordern nicht einmal die Jungen Liberalen, dass der Gottesbezug aus dem Grundgesetz gestrichen wird.

Wenn heute von einer Rückkehr der FDP zu ihren Wurzeln die Rede ist, ist zumeist die Zeit von 1969 bis 1982 gemeint. Während der Koalition mit der SPD gewann das erste – und bisher letzte Mal – der sozialliberale Flügel die Oberhand. Die neue Ostpolitik, Reformen in der Bildung, im Familien- und Strafrecht und bei der betrieblichen Mitbestimmung veränderten die Republik. Dreißig Jahre später gibt es kaum jemanden in der Partei, der diese Themen glaubhaft besetzen könnte. Zudem ist mit den Grünen der Bürgerrechtspartei FDP ein mächtiger Konkurrent erwachsen.

So bleibt das alte und neue Feld – der Markt, dessen „überlegene Weisheit“ Christian Lindner lobt. Diese Weisheit verliert seine Partei aus den Augen, sobald es um die Stammwähler geht. Als eine der ersten Maßnahmen nach dem Regierungsantritt 2009 schütze die FDP niedergelassene Ärzte vor der Konkurrenz durch Medizinische Versorgungszentren. Apotheker bewahrte sie vor den Segnungen des Marktes, indem sie den Versandhandel mit Medikamenten stark erschwerte. Steuerberater erhielten Steuererleichterungen wie Firmenerben und Hoteliers.

Wenn der neue Parteichef am Samstag mit seiner Rede vor die Delegierten tritt, wird er den Druck spüren, der auf seiner Partei lastet. Seine Parteifreunde werden ihm zujubeln. Doch die Frage, wozu Deutschland die FDP noch braucht, wird Philipp Röslers Amtszeit prägen. Nur, wenn er darauf eine Antwort findet, hat seine Partei eine Zukunft.