: Ein Diskurs über Größe für Kleine
BILDUNG Bei der Kinder-Uni der HU bekommt der Nachwuchs einen ersten Eindruck, wie es an der Hochschule zugeht. Zu Besuch bei einer Vorlesung über Alexander den Großen
VON HELMUT HÖGE
Bei der „Humboldt-Kinder-Uni“ bekommt man praktischerweise gleich am Eingang zum Audimax ein Studienbuch und einen Bleistift in die Hand gedrückt. Zuletzt hielt dort der Althistoriker Andreas Kohring eine Vorlesung über die Frage: „Warum hieß Alexander der Große eigentlich der ‚Große‘?“ Das passte mir gut, denn außer „333 bei Issos Keilerei“ wusste ich so gut wie nichts über den „großen“ Makedonier, der sich bereits im Alter von 33 Jahren, als er starb, ein Weltreich zusammenerobert hatte.
Ob die etwa 25 Grundschulkinder und 30 Erwachsenen im Audimax mehr über ihn wussten? Auf der hochklappbaren Schreibplatte an meinem Platz stand: „Willst Du mit mir Drogen nehmen / Dann wird es rote Rosen regnen?!“ Der Schrift nach zu urteilen stammte es nicht aus der vorherigen Kinder-Uni-Veranstaltung, bei der es um Tierisches ging, sondern von einem verliebten Humboldt-Studenten. Die Kommilitonin neben ihm, der wohl die Frage galt, hat „Fuck you!“ druntergeschrieben.
Die Vorlesung über Alexander den Großen – kurz: A. d. G. – begann mit einem Schlag auf einem chinesischen Gong auf der Bühne. Der Dozent am Rednerpult startete mit dem Satz: „Alexander wollte sich den Beinamen ‚der Große‘ verdienen: Ein junger Mann, der durch die Weite Persiens ritt und ständig betrunken war.“ Verwunderung im Publikum. Daraufhin zitierte der Dozent Plutarch, der im 2. Jahrhundert nach Christus über den 400 Jahre zuvor gestorbenen Alexander eine Studie schrieb für römische Kinder, die von Alexander dem Großen siegen lernen wollten und sollten. Plutarch ließ allerdings „die großen Dinge und die Kämpfe weg, weil es ihm um das Seelische ging. Alexanders Texte sind alle verloren gegangen. Es ist also ein doofes Thema, denn es gibt nur wenig über ihn.“
Von der dünnen Quellenlage kam Andreas Kohring auf die Geschichten, die man sich über A. d. G. erzählte, zu sprechen. Beim Wort „Geschichtenerzähler“ machten die zwei Gebärdendolmetscherinnen auf der Bühne dieselbe Geste, die auch wir mit einer Hand machen, wenn wir stumm andeuten wollen, dass da einer zu viel quatscht. Das Wort wurde vom Vortragenden zusätzlich mit zwei Dias von Geschichtenerzählern verdeutlicht: einem arabischen im Café und einem deutschen, Andreas Kohring selbst, auf einem Sofa.
Danach zeigte er das Foto eines Mosaiks in Pompeji von A. d. G., das ihn auf seinem Pferd als „Angreifer“ inmitten von persischen Feinden zeigt: „betrunken und jähzornig“, meinte Kohring und fragte die Kinder nach ihrer Interpretation: „Was seht ihr? Wie sieht er aus?“ Einige Mädchen: „dick“, „blass“, „ängstlich“; „mutig“ hielt ein Junge dagegen. „Und die Synthese daraus?“ Ein Mädchen: „entschlossen“, ein Junge: „traurig“.
Mir schien, dass Alexander – braungebrannt, mit schwarzen Haaren und in schimmernder Rüstung – einen skeptischen Gesichtsausdruck hatte und sich fragte, ob er und sein geliebtes Pferd Bukephalos – das berühmteste in der Antike – auch diese Schlacht im Jahre 333 überleben würde. Das Pferd starb erst 326 in einer Schlacht im Punjab, wo es in einem Fluss ertrank. Alexander ließ viele Denkmäler für sein Tier errichten und gründete sogar eine Stadt, die er nach Bukephalos benannte.
Zurück zur „Größe“: „Wer hat ihn so genannt?“, fragte der Historiker in den Saal. „Seine Truppe, die 28.000 Mann, die ihm folgten? Nein! Er bekam diesen Beinamen erst 250 Jahre später.“ Denn für die Römer sei Alex die Nummer eins gewesen, deswegen hätten sie ihn den Großen genannt. „Wie eroberte er dieses riesige Reich vom kleinen Makedonien aus bis nach Indien und Ägypten?“ Ein Mädchen: „Stück für Stück!“ – „Richtig, und woran starb er?“ Zwei Jungs: „im Krieg“, „Erschossen“; drei Mädchen: „Krankheit“ – „Vergiftet“ – „Zu viel Wein getrunken“. Die Mädchen hatten sich anscheinend vorher bei Wikipedia kundig gemacht.
Kohring fuhr fort: „Dem aristokratischen römischen Kind wurde geraten: ‚Tu so, als wärst Du ein neuer Alexander.‘ Und das mit vollem ‚Pathos‘. Dies ist allen Geschichten über Alexander gemein. Sämtliche Geschichten über ihn handeln von seiner Größe. Er nahm schon zu seinen Lebzeiten einige Männer mit, die solche Geschichten über ihn aufschreiben sollten.“
Und das war auch schon das für mich überraschende Ende der Vorlesung. Andreas Kohring verabschiedete sich, danach schrieb er Mädchen Autogramme ins Studienbuch und fachsimpelte mit fünf Jungs. Ein paar andere Kinder studierten die Sprüche auf den Klapptischen. Einer brachte sie ins Grübeln: „Das Reh springt hoch, das Reh springt weit, warum auch nicht, es hat ja Zeit.“ – „Häh?!“
Auf dem Weg aus der Universität schauten nicht wenige noch mit ihren Eltern in den neuen „Humboldt-Store“ im Foyer rein. Ich folgte ihnen, fand das Angebot aber eher dünn: Im „Store“ gab es nur wenig mehr als Pullis in allen Größen mit dem Signet der Humboldt-Universität drauf, so wie man sie bis zum Überdruss von den heutigen „Größten“ – den Amis und ihren berühmten Universitäten – kennt.
Zwei Jungs waren anscheinend jedoch so von der Vorlesung und der Audimax-Atmosphäre mit den vielen Medien angetan, dass sie ihre Eltern baten, ihnen einen – in Kindergröße – zu kaufen. Was diese ohne Wenn und Aber auch taten. Ich war noch ein bisschen enttäuscht von der Kürze der Vorlesung und dass kein Geschichtslehrer mit seiner Klasse, die gerade Alexander durchnahm, sie besucht hatte. Nur bildungsbeflissene Eltern, die eigentlich laut Anschlag vor dem Audimax das Weiterbildungsgeschehen darin nur vom Kinosaal aus hätten verfolgen dürfen. Daran hatte sich aber keiner gehalten.
Auf dem Weg nach Hause fiel mir ein Büchlein des Philosophen Michel Serres ein: „Erfindet Euch neu. Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“, die er „kleine Däumlinge“ nennt, weil sie auf ihren Smartphones alles mit dem Daumen machen – und damit an alle „Informationen“ rankommen (unter anderem, indem sie Wikipedia anklicken). Deswegen dürften Schule und Universität sie nicht länger mit ihrem „Stoff“ langweilen, sondern müssten versuchen, ihnen das Denken beizubringen. Das Wissen sei schließlich überall verfügbar und deswegen das Expertenzeitalter am Ende. Der Experte für Alexander der Große, Kohring, versuchte noch die „kleinen Däumlinge“ mit einer Mischung aus wissenschaftlichen und kindlichen Worten (Interpretation, Synthese,Diskurs, Papa, doof) anzusprechen. Vielleicht war Plutarch da schon näher an den Däumlingen dran gewesen – mit seiner Ausgangsfrage: Wie wird man ganz groß? Und warum überhaupt?
■ Nächste Kindervorlesung am Freitag, 26. September, 16 Uhr. Geografin Katja Janson klärt die Frage: Wie funktioniert Mamas Navigationssystem im Auto?