: Nach der Mauer ist vor der Mauer
Eine schöne Tasse Bohnenkaffee gefällig? Die Goldene Zitrone Schorsch Kamerun propagiert an der Volksbühne Berlin das Öffnen aller Grenzen. Ästhetisch allerdings überschreitet seine sogenannte Überprüfungsrevue „Der kleine Muck ganz unten. Die Welt zu Gast beim Feudeln“ keine einzige
VON CHRISTIANE KÜHL
Zu Beginn eine Erklärung für alle, die südlich der Elbe zu Hause sind: „Feudeln“ nennt man in Norddeutschland das, was im Rest der Republik „aufwischen“ genannt wird. Und nun für alle, die sich seit ihrem 30. Geburtstag eine Putzfrau leisten: „Aufwischen“ ist das, was Ihre Polin immer ganz am Ende tut. Oder Ihre Vietnamesin. Oder die Afrikaner im Einkaufszentrum. Wenn sie überhaupt reinkommen und nicht vor Gibraltar Sand fegen.
„Die Welt zu Gast beim Feudeln“ lautet der Untertitel von Schorsch Kameruns jüngster Revue „Der kleine Muck ganz unten“. Verschlossene Grenzen, Vorurteile und der seit der WM viel gelobte „positive Patriotismus“ sind ihre Themen. Dass just am Tag der Uraufführung an der Berliner Volksbühne Polen und der Ukraine statt wie erwartet Italien die Austragung der EM 2012 zugesprochen wurde, ist ein schöner Zufall, ändert aber natürlich nichts an der Relevanz des Themas „kerneuropäische Ausgrenzung“. Wird der Osten im Westen doch ein wenig wie der kleine Muck wahrgenommen: hässlich, arm, verstoßen, aber nun durch Glück, Cleverness und Skrupellosigkeit auf dem Weg zum Erfolg. Und wenn’s so weitergeht, Hilfe!, wird er das alte Europa am Ende mit langen Ohren dastehen lassen.
Kamerun, sonst Sänger und Texter der Goldenen Zitronen, erzählt die Geschichte andersherum. In seiner „Überprüfungsrevue“ reist die Preußenfreundin Naima (Astrid Meyerfeldt) aus dem Orient für zwei Tage nach Berlin, um all das zu finden, wofür sie Deutschland verehrt: Bismarck, Dackel, Teckel, Fallersleben, Wagner, Wald, den einen Rudi Völler und natürlich eine gute Tasse Bohnenkaffee. Doch was muss sie erfahren? Moscheen sind hier unerwünscht. Straßen und TV-Shows sind voller Rassisten. Nach der Mauer ist vor der Mauer. So weit, so wahr. What’s new, Pussycat?
Zu Beginn des Abends ist Kameruns betont naiver Zugriff noch äußerst amüsant. Eine Diskokugel spiegelt 1001 Sterne in den Saal, das vietnamesische Lotus-Ensemble spielt fremde Weisen und Josef Ostendorf, Mira Partecke sowie Carolin Mylord als Muck treten wie im schönsten Weihnachtsmärchen aus überdimensionalen Tonvasen auf. Ihr Geplänkel unterbricht Jacques Palminger als notorisch tonloser Conferencier mit einem soliden „Schnauze bitte – Musik!“, worauf erst der Punk und dann ein wunderbares Bluescreenvideo (Heta Multanen) von der Bühne Besitz ergreift. Per fliegendem Teppich geht’s in die Hauptstadt. Ab und zu schwebt ein Zeppelin, eine Bratwurst oder ein Ströbele vorbei.
Im Abendland angekommen, ist es jedoch mit der Leichtigkeit bald vorbei – leider ohne dass irgendetwas Gewicht gewinnen würde. In immer neuen Häppchen präsentiert die Revue aktuelle Verbalergüsse von den Gegnern der geplanten Moschee in Berlin-Heinersdorf, Erfahrungsberichte mosambikanischer Vertragsarbeiter, Kreuzberger Türken, Christian Klars Luxemburg-Grußwort etc. Alles böse. Tatsächlich provoziert diese Dokumentarmontage aber keinen einzigen Gedanken, den man nicht schon beim Hören oder Lesen der Originalreden gedacht hatte. Im Gegenteil: Da alles hübsch komensurabel serviert wird – sei es als Medienpersiflage oder domestizierter Punk –, tut gar nichts mehr weh.
Als „popkulturpessimistisch“ beschrieb sich Kamerun kürzlich in einem Interview, denn: Licht aus und auf der Bühne wird’s sehr laut, das reiche nicht mehr. Weshalb er seit einigen Jahren auch am Theater arbeitet, wo er sich „einfach unverbrauchter“ empfinde. Objektiv sind die eingesetzten theatralischen Mittel jedoch keineswegs unverbraucht – und so ist es die Krux des Abends, dass das Öffnen aller Grenzen gepredigt wird, ohne ästhetisch eine einzige relevante zu überschreiten. Nach 75 Minuten Frontaltheater sehnt man sich da fast ein bisschen nach einer guten Tasse Bohnenkaffee.
„Der kleine Muck ganz unten. Die Welt zu Gast beim Feudeln“, eine Überprüfungsrevue von Schorsch Kamerun an der Volksbühne Berlin, mit Joey Bozat, Fatma Genç, Astrid Meyerfeldt, Carolin Mylord, Josef Ostendorf u. a.