Vorderasien feat. Nordeuropa

JAN FEDDERSEN

Aus der Substanz der nackten Zahlen liest sich das Ergebnis des 56. Grand Prix Eurovision, der am Sonntag knapp vor halb eins zu Ende ging, so: Aserbaidschan siegte mit 221 Zählern – das ist, gemessen an allen Wertungen aus den 43 Ländern, der niedrigste Punkteschnitt seit Einführung des Wertungssystems von maximal 12 Punkten aus jeweils einem Land. Das vorderasiatische Land nimmt seit 2008 am ESC teil und belegte stets vordere Ränge. Auch dieses Jahr ließ es ein skandinavisches Trio das Lied „Running Scared“ schreiben – auf dass ein Triumph gelinge. Dem Vernehmen nach hat die Ölindustrie des Landes sich für ein Engagement beim Eurovision Song Contest stark gemacht – um das Image aufzupolieren, wollte man einen Sieg unbedingt und bediente sich entsprechend musikästhetischer Hilfe nordeuropäischer Provenienz: Dieses Kalkül ging, seitens der Performer mit Charme und Anmut vorgetragen, auf. Das Lied erörtert ein in der Popmusik ungewöhnliches, aber gekanntes Thema: die Liebe zwischen einer erwachsenen Frau und einem eben nicht mehr pubertierenden Mann.

Auf dem zweiten Rang landete der Italiener Raphael Gualazzi mit einer jazzigen Barmusiknummer. Für sein Land war es ein monströser Erfolg: Solch ein Stil lag beim ESC noch niemals so gut rangiert. Auf den weiteren Plätzen landeten Schweden, die Ukraine, Dänemark, Bosnien & Herzegowina, Griechenland, Irland, Georgien und hinter diesen die Deutsche Lena. „Taken By A Stranger“ wurde von ihr und ihren Tänzerinnen beeindruckend gut performt, gleichwohl verströmte sie nicht mehr die Elevinnenleichtigkeit des Vorjahres. Lena, so der Eindruck nach ersten Gesprächen und Interviews mit ihr, schien glücklich, nicht abermals gewonnen zu haben – ja sie wirkte erleichtert und gratulierte den SiegerInnen herzlich. Den letzten Platz musste die Schweizerin Anna Rossinelli einnehmen, es war für die Eidgenossen eine herbe Enttäuschung, nachdem Kritiker ihre Kandidatin schon auf ganz vorderen Rängen erwartet hatten. Österreichs Nadine Beiler fand sich auf dem 18. Rang wieder. Sie, die im Stile einer Whitney Houston ihr Glück suchte und perfekte Töne ausbrachte, muss auch mehr Punkte fantasiert haben. Die Show in der Düsseldorfer Arena glich über dreieinhalb Stunden einer Party – jedenfalls auf den Rängen und im Parkett. Jeder der 25 Finalisten erhielt, als sei es eine überdachte Fanmeile, scheppernd-freundlichen Applaus. Deutschland, wie im Fußball so auch beim Eurovision Song Contest, zeigte sich als heftig sympathischer Gastgeber dieses Popfestivals, sagten ausländische Besucher. Die ModeratorInnen, Anke Engelke, Judith Rakers und Stefan Raab, stolperten keineswegs durchs Englische oder Französische – vor allem Engelke moderierte die Punktezeremonie so locker wie keine ihrer KollegInnen anderer Länder in den vergangenen zwölf Jahren. Im Zwischenprogramm fand Jan Delay ein prima Publikum – er wird seine internationalen Aspirationen nun erfüllen können. Und die vormals ausgelobten Favoriten – Finnland etwa oder Frankreich? – landeten abgeschlagen im Mittelfeld. Gespielt wird, das bewies auch dieser Eurovision Song Contest, immer erst auf’m Platz.

■ Der Autor ist taz-Redakteur, verfolgt den Grand Prix seit seiner Kindheit und schrieb mehrere Bücher darüber. Er bloggt und arbeitet frei für den ESC-Sender NDR. Mit dem ESC endet auch seine Kolumne mit dieser Ausgabe.

Gesellschaft und Kultur SEITE 13