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Archiv-Artikel

Die große Bühne der Nation

Philipp Ther enthüllt die politische Funktion des Opernhauses. So zeigt er etwa, wie eng die Entstehung des tschechischen Nationalbewusstseins mit der Oper von Prag verbunden ist

Eine der beeindruckendsten Hinterlassenschaften der Donaumonarchie ist bis heute das dichte Netz von Theaterbauten aus dem 19. Jahrhundert, mit dem vor allem das Wiener Architektenduo Ferdinand Fellner und Hermann Helmer das Reich überzog. Diese einheitliche Infrastruktur, meist aus lokalen Initiativen entstanden, symbolisiert bis heute die Kulturleistung des Imperiums – zu dessen Untergang sie gleichzeitig beitrug, weil sich die Theater zu Bühnen der jeweiligen Nationalkultur entwickelten.

Nirgends aber war die Bildung einer politischen Nation so eng mit der Geschichte eines Opernhauses verbunden wie in Prag, und deshalb ist das Národní Divadlo das bei weitem interessanteste der drei Fallbeispiele, anhand deren der Historiker Philipp Ther die soziale Funktion der „Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914“ nachzeichnet.

Der Verein für die Errichtung eines Tschechischen Nationaltheaters in Prag wurde zum Ausgangspunkt der gesamten Nationalbewegung, die sich in der Donaumonarchie nicht offen politisch artikulieren konnte und deshalb auf das Feld der Kultur auswich. Praktisch aus dem Nichts gelang es den Initiatoren des Theaters, eine tschechische Kulturnation zu schaffen. Ohne die Kompositionsaufträge des Hauses wären viele Opern von Bedřich Smetana, Antonín Dvořák oder Leoš Janáček, die auch heute noch zentraler Bestandteil des tschechischen Nationalbewusstseins sind, wohl gar nicht erst entstanden.

Das zweite Beispiel, das Ther heranzieht, ist Lemberg. Weil die Zensur in Österreich weniger rigide agierte als in Russland oder Preußen, hatte sich die Stadt zur kulturellen Hauptstadt des geteilten Polen entwickelt. Gleichwohl erreichte die Lemberger Oper, wie Ther eindrücklich zeigt, niemals den Glanz ihres Prager Schwesterinstituts – ein Symptom der relativen Schwäche der polnischen Nationalbewegung insgesamt. Neben der politischen Teilung des Landes spielte vor allem die soziale Struktur eine Rolle, die weniger vom Bürgertum als vom Adel geprägt war.

Der Mangel an zivilgesellschaftlichem Rückhalt bescherte der Bühne ein überaus unstetes Schicksal, das von einem häufigen Wechsel der Programmpolitik wie auch des Künstlerstamms geprägt war, wobei es immer wieder auch zur einer vollständigen Auflösung des Ensembles kam. Die ständig wechselnden Gastsänger waren der Landessprache nicht mächtig, von dem unsteten Spielbetrieb konnten einheimische Komponisten mangels verlässlicher Aufträge nicht leben. Einzig die Opern von Stanisław Moniuszko nehmen in den polnischen Spielplänen noch heute eine zentrale Stellung ein.

So aufschlussreich der Vergleich zwischen Prag und Lemberg für die politische Geschichte bis in die Gegenwart ist, so schlecht fügt sich die Dresdner Hofoper als drittes Fallbeispiel ein. Gewiss spielte die sächsische Metropole als Uraufführungsort zahlreicher Opern von Carl Maria von Weber, Richard Wagner und Richard Strauss eine wichtige Rolle für die deutsche Musikkultur. Doch war Dresden nie das unbestrittene Zentrum der Musiknation, und weil die Deutschen seit 1871 ihren eigenen Nationalstaat hatten, musste die Kultur nicht mehr als ideelle Ersatznation herhalten.

Am Ende seiner Studie scheint es, als sei Ther mit dieser Auswahl selbst nicht mehr ganz glücklich. Dresden als Oper des Hofs, Lemberg als Bühne des Adels, Prag als Theater des Bürgertums – das war die strikt sozialgeschichtliche Versuchsanordnung, die sich in der Durchführung jedoch als wenig ergiebig erwies: Unabhängig von der Trägerschaft unterlagen alle drei Häuser denselben Modernisierungszwängen. In Bezug auf die kulturpolitischen Debatten der Gegenwart, die statt um Inhalte mit Vorliebe um solche Strukturfragen kreisen, ist aber auch das eine Erkenntnis.

RALPH BOLLMANN

Philipp Ther: „In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914“. Oldenbourg Verlag, München 2006, 465 Seiten, 39,80 Euro