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: Kindheit, wem Kindheit gebührt: Tore Tungodden nimmt den Slogan „Kinder an die Macht“ ernst

Über Kinder wird in diesem Land ja viel geredet, gerne auch über jene, die es gar nicht gibt. Kinder sind doch so toll! Als Rentenzahler und Jungbrunnen, als Authentizitätsgarant und Sinnlieferant. Die neue Sehnsucht nach Kindern lässt tief in die Herzen der Erwachsenen blicken, die am liebsten selber noch einmal Kind wären. Aber wer soll dann die ganze Arbeit machen: das Geld verdienen, den Geschirrspüler ausräumen, das Land regieren? Genau da liegt das Problem. Irgendeiner muss den Kühlschrank auffüllen und das Parlament wählen. Was passiert, wenn die Lust an solchen erwachsenen Tätigkeiten schwindet, sieht man am Ess- und Wahlverhalten. Kochen? Sich für eine Partei entscheiden? Viel zu mühsam. Die Konsequenzen dieser Verweigerung hat Tore Tungodden in seinem Jugendroman auf belustigende Weise durchgespielt.

Der Norweger lässt einen Traum wahr werden oder besser: einen Albtraum. Er nimmt nämlich das alte Grönemeyer-Lied „Kinder an die Macht“ wörtlich. Die neue Partei „Stimme der Zukunft“ kürt die kleine Hannah zur Spitzenkandidatin. Die Zehnjährige wird zur neuen norwegischen Ministerpräsidentin gewählt, und auch die Regierungsmitglieder, die sie ernennt, sind minderjährig. Da ändert sich manches: Es gibt eine Süßigkeitenministerin, dazu ein Zank-, Denk- und Lachministerium. Gleichzeitig bleiben die meisten Klassiker wie Finanzen und Außenpolitik erhalten. Die Kinder nehmen ihre Regierungsarbeit ernst. Sie lassen zwar in jeder Schule gratis Süßigkeiten verteilen, aber diese enthalten mehr Karotten als Zucker und sind auch noch gesund. Kinder an die Macht! Das ist ein Sieg der Vernunft über die Unvernunft, des Erwachsenen über das Kindische.

Werdet wie die Kinder! Davon versprach man sich schon zu biblischen Zeiten viel Gutes. Doch jetzt, wo sich Erwachsene tatsächlich wie Zwölfjährige benehmen, ist diese Forderung zur Drohung geworden. Es hat sich eben viel verändert seit 1986, als das Grönemeyer-Lied die Charts stürmte und Kinder als die besseren Menschen galten. Deshalb findet Hannah es auch gar nicht toll, dass ihr kindischer Vater aus ihr eine Politikerin machen will, statt selbst in die Politik zu gehen. Und so trifft sie am Ende eine sehr kindgerechte und erwachsene Entscheidung, wenn sie sagt: „Ich will Kind sein, jetzt, wo ich Kind bin, und erwachsen später, wenn ich erwachsen bin, nicht umgekehrt. Deshalb möchte ich meinen Posten einem erwachsenen Menschen überlassen, der diese Arbeit auf erwachsene Weise machen kann.“

Wie von einem fremden Stern wirken da Geschichten aus anderen Zeiten. Gute Zeiten waren allerdings auch sie nicht unbedingt. Zum Beispiel Grania O’Mally. Die irische Piratin, geboren 1530, ist bereits im Alter von neun einem 14-jährigen Clanführer versprochen, den sie mit 16 heiratet. Mit 15 befehligt sie bereits ein eigenes Segelschiff, kurz darauf wird sie das erste Mal gefangen genommen. Die Heldin der Iren ist nach heutiger Vorstellung eine Jugendliche.

Oder, ganz anders: der kleine Bonna. Er ist 14, als die Nazis die Macht übernehmen, und er hat Träume wie ein 14-Jähriger. Bonna will fliegen und erfüllt sich diesen Wunsch, indem er in die Fliegerschar der Hitlerjugend eintritt. Die neuen Machthaber wissen seine Kindlichkeit auszunutzen. Und Bonna? Der muss früh erwachsen werden, damit er die Nazis überlebt. Denn letztlich ist es immer das gleiche Spiel: Kinder brauchen Erwachsene, um Kind sein zu können, egal ob im 16. Jahrhundert, in der Nazizeit oder der kindlichen Gesellschaft von heute. ANGELIKA OHLAND

Tore Tungodden: „Die Ministerpräsidentin“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 158 Seiten, 11,90 Euro Sabine Dillner: „Die Piratin. Das Leben der Grania O’Mally“. Ueberreuter Verlag, Wien. 304 S., 14,95 Euro Dagmar Chidolue: Flugzeiten. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 251 Seiten, 12,90 Euro