LESERINNENBRIEFE
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Industrie-Scharia

■ betr.: „TTIP. SPD setzt Gabriel Grenzen“, taz vom 22. 9. 14

Herrn Gabriel glaube ich nichts mehr. Als die Freihandelsabkommen ausgehandelt wurden, hat er Kritik und Bedenken scharf zurückgewiesen, man wisse ja gar nicht, was darin stehe. Jetzt wo die fertigen Texte vorliegen und nur noch angenommen oder abgelehnt werden können, legt er eine große Wunschliste für Veränderungen vor. Am Ende wird es dann heißen „wir hätten es ja gern anders gehabt, aber jetzt konnte man nichts mehr ändern. Und weil die Abkommen nützlich sind, stimmen wir halt zu.“

Wenn Dschihadisten Scharia-Regelungen in der Bundesrepublik anwenden wollen, gibt es großes Geschrei. Aber wenn die Industrie eine Industrie-Scharia erfindet, wird das von den Herren Barroso und Juncker und Frau Merkel unterstützt. Werden denn da Rechtsstaat und Demokratie etwa nicht ausgehebelt? Uns wird dazu versichert, es würde nichts verschlechtert. Darum geht es aber nicht, sondern es geht um die Verhinderung von Verbesserungen.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass für die meisten Waren sowieso zwischen Nordamerika und Europa keine Zollschranken mehr bestehen. Probleme gibt es nur da, wo hygienische, ökologische, gesundheitliche oder technische Unterschiede bestehen, also bei den heiklen Produkten. Da will die Industrie sicherstellen, dass nicht staatliche Vorschriften ihren Profit einschränken, um zum Beispiel die Gesundheit der Menschen besser zu schützen, Arbeitsbedingungen anständiger zu regeln oder der zu erwartenden Klimakatastrophe zu begegnen. Das aber ist notwendige Aufgabe der gewählten Volksvertreter. ULRICH FINCKH, Bremen

Fragwürdige Wachstumskritik

■ betr.: „Die Wirtschaft muss schrumpfen“, taz vom 23. 9. 14

Es ist unübersehbar, dass ein Widerspruch zwischen den ökonomischen Wachstumszwängen einerseits und der Endlichkeit der Ressourcen und der Aufnahmefähigkeit der natürlichen Umwelt auf der anderen Seite besteht. Die herrschenden Wirtschaftswissenschaften ignorieren oder verharmlosen dieses Problem.

Aber auch die Rezepte wachstumskritischer ÖkonomInnen sind offensichtlich mit Vorsicht zu genießen. Das zeigt das Interview mit dem Finanzwissenschaftler Helge Peukert. Der Erfurter Professor gefällt sich in konservativer Kulturkritik und erbost sich reichlich undifferenziert über „kleinbürgerliches Konsumleben“. Außerdem scheint Peukert mit autoritären Politikentwürfen zu liebäugeln. Seine Äußerung, eine „zukunftsorientierte Ökoelite“ habe der „orientierungslosen Mehrheit klarzumachen, wo es langgehen muss“, zeugt jedenfalls nicht gerade von demokratischer Sensibilität.

GEERT NABER, Oldenburg

Oberflächliche Argumente

■ betr.: „Diskriminierende Werbung. Sexismus ist in uns allen“, taz vom 23. 9. 14

Heide Oestreich führt zwei oberflächliche Argumente gegen ein gesetzliches Verbot von sexistischer Werbung an: Zum einen die praktische Unklarheit: „Wer definiert, was sexistisch ist?“ und grundsätzlicher: „Sexismus kann man nicht verbieten.“

Die praktische Frage lässt sich in einer Demokratie ziemlich einfach beantworten: Die Gesetzgeber_innen. Die schreiben Merkmale sexistischer Werbung ins Verbot; so wie alle Gesetze Merkmale enthalten, die bestimmen, wann ein bestimmtes Recht besteht oder nicht. Dahinter steckt also die Idee, den Kampf gegen Sexismus nicht nur auf der Straße, sondern auch formalisiert zu führen, und im Zweifelsfall vor Gericht um die richtige Auslegung zu ringen – auch das eine normale demokratische Gepflogenheit. Wieso in aller Welt sollten alle möglichen Themen gesetzlicher und damit formalisierter demokratischer Regulierung offenstehen, Werbung und Geschlechterverhältnisse aber nicht

Damit tritt auch der Schwachpunkt des grundsätzlichen Arguments zutage: Natürlich lässt sich „Sexismus“ nicht per se verbieten. So wie sich auch „Steuergerechtigkeit“, „Umwelt-“ oder „Arbeitnehmerschutz“ nicht in dieser Allgemeinheit verordnen lässt. Es lassen sich aber einzelne Ausprägungen regulieren, eine davon ist sexistische Werbung. Wieso sollten die Handlungsformen, die Oestreich benennt – „aufdecken, sich empören, kämpfen“ – nur im rechtsfreien Raum stattfinden können? Der Gegensatz von gesellschaftlicher Auseinandersetzung und staatlicher Regulierung ist ein Scheingegensatz; die Setzung und Durchsetzung von Recht ist gerade eine Form des Empörens und Kämpfens. Wieso sollte nicht gelegentlich auf staatliche und rechtliche Handlungsmacht als gesellschaftliches Werkzeug zurückgegriffen werden – als ein Instrument von vielen, neben bewegungsförmiger Politik und so weiter? Auch staatsferne Politikformen müssen im Übrigen um konkrete Konflikte ringen und können nicht den Sexismus an sich „aufdecken“.

Wie gesagt: Der Gegensatz ist ein Scheingegensatz. Ich würde es jedenfalls als ziemlichen Gewinn ansehen, wenn meine Patenkinder nicht großformatig einen Objektstatus vorgezeigt bekämen; und ich selbst würde auch etwas beschwingter durch den Alltag gehen. Das Machtverhältnis Geschlecht wird gerade auch kulturell, auch durch Bildersprache, durchgesetzt – und verändert.

Nebenbei: Auch im Antidiskriminierungsrecht müssen Richter_innen lernen, sexistische und rassistische Sachverhalte zu erkennen. Und auch hier findet die Auseinandersetzung in vielen kleinen Einzelfällen statt und zeigt langsam, aber sicher Wirkung in Form von realer Veränderung. In Oestreichs Argumentation wäre das AGG unnötig. ULRIKE MÜLLER, Berlin