WOHLVERDIENTE LEKTIONEN IN SACHEN VORSICHT UND BENIMM
: Wovon Blockwarte träumen, dass ihre Opfer träumen

LIEBLING DER MASSEN

ULI HANNEMANN

Auf dem Weg zum Kino mault die Freundin mal wieder über meine angebliche „Neuköllner Blockwartsmentalität“: In solchen Situationen wäre ich ihr immer richtiggehend peinlich. Da ist sie übrigens nicht die Erste.

Ich fühle mich ungerecht behandelt. Die einzige Angewohnheit, bei der ich ihr noch halbwegs zustimmen würde, sind die künstlichen Schnarchgeräusche, die ich jedes Mal reflexartig ausstoße, wenn vor mir jemand trödelt. Das ist tatsächlich eine unangenehme Marotte, die ich mir gerne abgewöhnen würde.

Darüber hinaus aber habe ich mit meinen öffentlichen Zurechtweisungen einfach nur recht. Und zwar immer. Wenn ich also ein Blockwart sein soll, dann ist ein Blockwart eben was Gutes, so wie Blockschokolade. Immerhin hat mich dieses hirntote Ehepaar beim Rechtsabbiegen gerade fast überfahren, um dann, schon halb auf dem Radweg, im letzten Moment noch ruckartig zu bremsen. „Ich hab den Schwachkopf doch nur auf sein Fehlverhalten hingewiesen“, rechtfertige ich mich beflissen, wo überhaupt keine Rechtfertigung vonnöten ist.

„Du hast dich im Vorbeifahren freihändig zu ihnen umgedreht und höhnisch Beifall geklatscht“, mault die Freundin. „Das ist doof, kindisch und oberlehrerhaft.“

„Ist es nicht“, verbessere ich sie sanft. „Das wird ihnen garantiert eine Lehre sein!“

Noch im dunklen Kino, während der Werbung, streiten wir weiter. Es läuft wieder diese saudämliche Eisreklame, bei der eine Frau mit einem Eis am Stiel in die Berliner U-Bahn latscht, und dann sind da, ohne jeden erkennbaren Zusammenhang, auf einmal lauter Kasper in bunten Harlekinskostümen, die auf irgendwelchen Tröten Rambazamba blasen. Anstatt dass, was viel realistischer wäre, der berüchtigte Stinkefuß aus der U7 durch den Wagen hinkt und um Geld für frische Fußlappen bettelt.

„Saudämliche Eisreklame“, zische ich. „Ruhe“, zischt die Freundin, denn der Film hat längst angefangen. Auf den kann ich mich allerdings nicht konzentrieren, denn ich muss über ihre Vorwürfe nachdenken. Wie wird es dem Ehepaar aus dem Auto wohl im Anschluss an die wohlverdiente Lektion in Sachen Vorsicht, Benimm und Straßenverkehrsordnung weiter ergangen sein?

Gewiss werden sie sich zunächst ärgern – Katharsis ist nun mal kein Zuckerschlecken –, aber dann, wenn sie nachts im Bett liegen und nicht einschlafen können, plötzlich ins Grübeln kommen: „Nanu – warum können wir denn nicht einschlafen?“ Und dann: „Hey, ich weiß, warum: Es ist mein schlechtes Gewissen, das mich nicht einschlafen lässt! Da war doch dieser Radfahrer, den ich fast überfahren habe, und dem ich daraufhin unsinnigerweise übelnahm, dass er mich mit einer neckischen und gewandten Geste subtil auf meinen schlimmen Fehler hingewiesen hat. Er hätte tot sein können! Es wäre also sein gutes Recht gewesen, auch mich zu töten. Doch stattdessen hat er nur geklatscht. Wie großmütig von ihm – ich sollte ihm ewig dankbar sein!“

„Ich war auch wütend“, gesteht seine Frau flüsternd. „So ein Idiot, habe ich gedacht. Wie konnte ich nur!“

Heiß rinnen beider Tränen nun über verschwitzte Wangen und versickern im geblümten Kopfkissenbezug. Wie kleine Kinder, die ihre Eltern auf der Flucht verloren haben, klammern sie sich eng aneinander. So viel Nähe war lange nicht. Auf einmal beginnt sich unter der himmelblauen Flanellschlafanzughose des Mannes, von dem ich nach wie vor der Meinung bin, dass er mich um ein Haar überfahren hat, etwas zu regen. Sein Atem geht schneller, und ihrer auch …

Im Abspann wird irgendwelchen Dorfbewohnern für ihr Stillhalten gedankt. Der ganze Film ist fast komplett an mir vorbeigegangen. Ich glaube, es war so ein Schuld-und-Sühne-Schinken mit einem ganzen Haufen Fickszenen. Doch sicher bin ich mir nicht.