: Im Reich der schwappenden Speckringe
Die Deutschen sind die dicksten Europäer. Auf Deutschlands einziger Verfettungsfarm werden sie jetzt richtig gemästet
„Die Deutschen sind nicht zu dick, sie sind bloß nicht verkümmert“, lässt mich Mori Alofa wissen, dann hebt der freundliche Polynesier seinen schweren Leib aus dem Kissenlager und winkt mich huldvoll heran. Wohlwollend tätschelt er den Speckring, der sich während des Winters (Fahrrad kaputt, Freibad zu) um meine Hüften gelegt hat und auch im Frühling (Grillen, Biertrinken) nicht verschwinden will. „Sie sind ein guter Mensch. Feist und schön“, sagt er, und seine Äuglein blitzen vor Vergnügen.
Der 223-Kilo-Koloss gilt als Guru des modernen Heilfressens und leitet unweit des kleinen Dörfchens Specklin Deutschlands einzige Verfettungsfarm. In der idyllischen Abgeschiedenheit der brandenburgischen Provinz können nervöse Großstädter und gehetzte Führungskräfte wieder zu Kräften kommen. Nichts – von einigen Pommesbuden, die sich wie ein Rudel hungriger Wölfe um den weißen Sanatoriumsbau drängen, einmal abgesehen – lenkt hier vom Wesentlichen ab: dem kontemplativen Essenfassen. Der verschwenderische Prunk der üppigen Buffethalle steht dabei im krassen, wenngleich kalkulierten Gegensatz zur mönchischen Kargheit der Schlafsäle, deren überbreite Gussstahlbetten eine Herde ruhig schnorchelnder, bisweilen zufrieden schmatzender Menschen undefinierbaren Geschlechts beherbergen.
Überhaupt strahlt dieser Ort die heitere Ruhe einer Walrosskolonie kurz nach der Fütterung aus, und es riecht auch so. In die anstaltseigenen Gewänder aus fließender Seide gewickelt, mögen die gleichmütig aufragenden menschlichen Gebirge auf den ersten Blick ein wenig einschüchternd wirken, doch ruft das sanft einlullende Schwappen der Körpermassen schon bald ozeanische Gefühle im Betrachter wach. Unbewusste Erinnerungen an ein körperloses Dasein als Fettauge in der Ursuppe, wie Pufu Wonk sagt. „Mit dem Körper dehnt sich auch der Geist aus“, erklärt der ehemalige Sumo-Ringer Wonk, der hier als spiritueller Frittiermeister wirkt. „Alles, was gut ist, ist rund“, zitiert er das allgegenwärtige Mantra des Sanatoriums, das als zuckriger Spritzguss an den Wänden des Schlafsaales auch hier zur Völlerei mahnt. „Indem wir dem Körper die störenden Kanten nehmen, bringen wir die Gedanken dazu, die Richtung zu wechseln“, sagt Wonk.
Dank einer ausgeklügelten Diät („All you can eat“) und eines streng überwachten Bewegungsplans (liegen bleiben, Beförderung mit Sänften) kann Sanatoriumschef Alofa erstaunliche Erfolge zeitigen. „Schon nach wenigen Wochen gelingt es manchen Patienten, ihr Gewicht zu verdoppeln“, sagt er stolz. Höhepunkt jeder Kur ist die Buttercremetorten-Zeremonie, bei der traditionelle schamanistische Rituale, aktuelle Patissiers-Kunst und der gute alte Tortenwitz eine erstaunlich zeitgemäße Symbiose eingehen. Andere Patienten belegen lieber Mandalas mit komplizierten Mustern aus Wurstscheiben und Käse und schieben die aufwendigen Arbeiten verzückt in den Ofen.
„Vor einem halben Jahr war ich noch zickige Moderedakteurin mit Untergewicht und Karrierewunsch“, verrät eine verschmitzt dreinschauende Patientin mit der Physis eines mittleren Wals und kaut an einem Hühnerbein. „Jede Woche die gleichen Fotostrecken mit hungrigen Frauen, jede Woche neue Ernährungstipps mit noch weniger Essen. Zuletzt habe ich nur noch Baumrinde empfohlen.“ Dann kam der Zusammenbruch. Die Feuerwehr musste die schwer halluzinierende Frau aus ihrem Kühlschrank schneiden. „Ich hatte mich selbst für ein Stück Torte gehalten“, erklärt sie und schaut lachend an sich herunter: „Und wissen Sie was, ich hatte recht.“
Auch Prominente aus dem Showbusiness kommen gern nach Specklin, vor allem im Herbst ihrer Karrieren. Zwar schweigt sich Alofa diskret über seine prominenten Schützlinge aus, doch sollen schon Udo Jürgens („Aber bitte mit Sahne“), Marius Müller-Westernhagen („Dicke“) oder Kai „Toast“ Hawaii, („Extrabreit“) zum Aufspecken hergekommen sein. „Natürlich spukt ihnen allen der späte Elvis als Idol im Kopf herum, aber Heilfressen ist meditative Versenkung. Mit ein paar Hamburgern zu viel ist es da nicht getan.“
Als Alofa Mitte der Neunzigerjahre den stillgelegten Schweinemastbetrieb in Specklin übernahm, um dort, wie er sagt, „irgendeinen teuren Wellness-Zinnober mit Südsee-Touch hinzurotzen“, hat niemand an sein Konzept geglaubt. „Auch ich nicht“, gibt er lächelnd zu. „Ich befand mich damals in einer tiefen Krise.“ Der Insel-Adelige war kurz zuvor wegen chronischen Untergewichts von der Thronfolge ausgeschlossen und schließlich sogar des Atolls verwiesen worden. „Ich war ein Wrack, habe kaum 90 Kilo gewogen“, erinnert er sich. Erst als Jungunternehmer Alofa bemerkte, dass vor allem die örtlichen Imbissbuden von seinen Kurgästen profitierten, begann er, sich ernsthaft mit dem kulturellen Erbe seines Volkes auseinanderzusetzen und den traditionellen „Weg des Fleisches“ mit Erkenntnissen der modernen Ernährungsindustrie zu verbinden.
Noch lange sitzen wir an diesem Frühlingsabend bei Cremeschnittchen und Bratwurst zusammen, während draußen die grellen Pfiffe der Wärter die Patienten zur Abendfütterung an die Tröge locken – im satten Licht der Abendsonne sind die schwerfälligen Riesen ein majestätischer Anblick. Herr Alofa lächelt geheimnisvoll. „Mein Papa Lagi hat immer gesagt: Der Wal ist rund, der Wal ist dick. / Warum auch nicht, es ist ja schick.“
CHRISTIAN BARTEL