Abgang Hand in Hand

NEUE DRAMATIK Lothar Kittstein testet die Sollbruchstellen der Moral aus. Jetzt steht eine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen an

Die Zivilisationspsychosen der Figuren werden zum gut integrierten Teil der Normalität

VON HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

Im Tod blühen die Träume von der Freiheit erst richtig. Der junge Schlachter Hans lebt mit seiner Freundin Katarina in dem rumänischen Dorf Amnas. In den Revolutionswirren 1989 stürzt er voller Begeisterung auf die Straße und wird von drei Kugeln getroffen. Im Sterben sieht er nun das Leben, das er in der Zukunft verpasst, vorbeiziehen. Lothar Kittsteins Stück „Die Geister von Amnas“, das im März am Theater Oberhausen als ein Hörstück uraufgeführt wurde, bei dem man mit Kopfhörern durch eine Bühneninstallation geht, entwickelt aus dieser Ausgangssituation eine Möglichkeitswelt der Freiheit. Ein Leben im Was-wäre-wenn-Modus, dem das historische Wissen allerdings eingeschrieben ist. Hans trifft im Krankenhaus auf Maria, mit der er in den Westen geht; als 50-jähriger Schlachthofbaron kehrt er nach Amnas zurück, begegnet seinem unehelichen Sohn Hans junior, der ihn vertreiben will und den er dann erschießt.

Wende, Familie, Heimat, Migration, Lebensentwurf – „Die Geister von Amnas“ deutet vieles an und buchstabiert doch nichts aus. Die historischen und sozialen Fakten sind auf ein Minimum reduziert, das eine Verortung gerade noch zulässt und diesem „Flickenteppich aus 18 Minidramoletten“, wie Kittstein ihn nennt, seine gespinsthafte Leichtigkeit erhält. Zwar hat er für das Stück in Rumänien recherchiert, doch allzu viel Vorwissen engt ihn beim Schreiben eher ein. „Die Figuren brauchen Luft“, sagt der promovierte Historiker.

Als Autor hat sich Lothar Kittstein, von dem am Montag bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen „Die Bürgschaft“ uraufgeführt wird, eher langsam durchgesetzt. „Ich hatte Zeit zu lernen“, sagt der 40-Jährige zufrieden, der Geschichte, Germanistik und Philosophie studiert, als Headhunter gearbeitet und dann in Dramaturgien hospitiert hat. 2005 wurde er mit „In einer mondhellen Winternacht“ zu den Autorentagen des Thalia Theaters eingeladen. Kurz darauf brachte das Theater Osnabrück sein Volksstück „Spargelzeit“ auf die Bühne. Eine Satire, in der eine ruinierte Familie aus Düsseldorf in Ostdeutschland einen Spargelhof aufzieht, von Neonazis bedroht und von polnischen Saisonarbeitern gerettet wird. Den sozialen Realismus des Stücks hält er heute für misslungen.

Nicht, dass sich Kittstein für solche Fragen nicht interessiert. Heute presst er soziale oder historische Konflikte eher als Spurenelemente unter den Alltagsfirnis des Privaten – und „wartet“ dann auf den seelischen Ermüdungsbruch seiner Figuren. „Der emotionale Kern ist das Essenzielle“, sagt Kittstein.

In seinem Stück „Die Sorglosen“ treffen sich die Brüder Erik und Anders, zwei beruflich gescheiterte Wohlstandskinder, nach Jahren wieder. Neid, Missgunst, Verletzungen, Ängste lauern als Ballaststoffe im seelischen Souterrain, doch sie finden nicht an die Oberfläche. Die Explosion ähnelt eher einer Implosion: Anders und die wieder schwangere Maren möchten gern ihre todkranke Tochter loswerden: „Wir haben nicht die Kraft.“ Erik wiederum und seine Frau Simona wollen die Nichte um jeden Preis. In aufreizend beiläufigen Dialogen tastet Kittstein die moralischen Sollbruchstellen der beiden Paare ab, doch ohne je zu werten. Die Zivilisationspsychosen der Figuren werden zum gut integrierten Teil der Normalität, das eigene Kind wegzugeben erscheint so normal wie Zähneputzen.

Seit zwei Jahren kann Kittstein vom Schreiben leben. Die Auftragslage ist gut und er muss sein Arbeitspensum genau organisieren, auch weil er mit der Schauspielerin Birte Schrein inzwischen zwei Söhne hat. Die Auftraggeber reichen vom Stadttheater bis zur freien Szene und die Spreizung eröffnet Kittstein ein weites dramaturgisches Experimentierfeld. Vor allem die Arbeiten für das Bonner Fringe Ensemble wie der in Wiederholungsschleifen sich entwickelnde Frauendialog „Die Letzten“ spielen sehr frei mit narrativen und psychologischen Strukturen.

Konventioneller ist dagegen das neue Stück „Die Bürgschaft“, das im Auftrag des Schauspiels Frankfurt und der Ruhrfestspielen in Recklinghausen entstand und mit dem Kittstein erstmals über den Rahmen des Kammerspiels hinausgeht. In Anlehnung an Schillers Ballade hat er einen Plot konstruiert, in dem der Kriminelle Thomas dem erfolglosen Investmentbanker Gerd und seiner Frau Anja ein Kind aus Osteuropa verschafft hat und nun die letzte Rate eintreiben will. Gerd lässt seine Frau als Pfand zurück und versucht, das Geld zu beschaffen. Die moralische Hemmungslosigkeit des bürgerlichen Paares geht dabei weit über die des Kriminellen hinaus. Als Thomas schließlich eine Stundung der Rate anbietet, erschlagen sie ihn kurzerhand.

Bei kaum einem zeitgenössischen Autor ist der Tod ein derart konsequenter Begleiter der Figuren, die vielleicht angesichts dieser existenziellen Schwelle derart skrupellos das private Glück zu erzwingen versuchen. Kittstein spricht von „Grauen und Erlösung“, wenn er Gerd und Anja in der tiefsten Katastrophe den Vorschein des Glücks gönnt. „Sie gehen Hand in Hand ab“, lautet die idyllische Szenenanweisung.

■ „Die Bürgschaft“, Uraufführung am 23. Mai in Recklinghausen