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Archiv-Artikel

Kein Geld fürs Hallenbad

Studie: Immer mehr Kinder wachsen in Familien auf, die von Hartz IV leben. Der Anstieg war im Westen sogar stärker als im Osten. Bayern und Baden-Württemberg betroffen

BERLIN taz ■ Eigentlich ist gerade eine Zeit guter Nachrichten. Der Aufschwung ist da, sagen Wirtschaftsexperten. Neue Jobs entstehen, verkündet die Arbeitsagentur. Einer Gruppe aber nützt das bislang wenig: Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen in bedürftigen Familien auf. „Der Aufschwung geht an den Hartz-IV-Familien vorbei“, sagt Paul Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe.

Er stützt seine Analyse auf Zahlen, die die Bundesagentur für Arbeit Mitte April veröffentlicht hat. Laut Schröder lebten 2006 in Deutschland 1,89 Millionen Kinder unter 15 Jahren auf Hartz-IV-Niveau. Das sind 10 Prozent – über 173.000 Kinder –mehr als im Jahr zuvor. Im Dezember 2006 erreichte der Negativ-Rekord gar den bisherigen Höchststand: Die Zahl bedürftiger Kinder kletterte auf 1,91 Millionen.

Noch also ist der Trend nicht gestoppt, dass immer weniger Eltern aus eigener Kraft den Unterhalt ihrer Kinder bestreiten können. „Sozialgeld“ nennt sich die Leistung, die dem Nachwuchs dann zusteht.

Die Zahl der Kinder, die von staatlicher Stütze leben, stieg im Westen stärker an als im Osten. Besonders schlecht schneiden im Jahresvergleich zwei Länder ab, die sonst eher mit guten Wirtschaftsnachrichten aufwarten: Bayern und Baden-Württemberg. Immerhin hat sich dort die Lage in der zweiten Jahreshälfte gebessert. Überhaupt verbergen sich hinter den pauschalen Werten erhebliche regionale Unterschiede. Sehr gut hat sich laut Studie die Situation in Wilhelmshaven entwickelt. Deutlich verschlechtert hat sie sich in Jena und im Landkreis Oberhavel.

„Trotz guter Konjunktur wächst die Kinderarmut in Deutschland. Familien mit Kinder tragen offensichtlich ein höheres Risiko“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Auch Schröder präsentierte eine Erklärung für die nach wie vor hohen Werte: „Der Aufschwung erreicht zuerst die, die sich recht leicht wieder in den Arbeitsmarkt einfügen. Alleinstehende kommen eher aus Hartz IV raus als Familien oder Alleinerziehende. Sie sind flexibler.“

Dabei ist empirisch nicht feststellbar, dass Familien in Deutschland grundsätzlich schlecht dastünden. Laut dem letzten Mikrozensus, einer repräsentativen Haushaltsbefragung, haben lediglich sechs Prozent der Ehepaare mit Kind weniger als 1.300 Euro im Monat zur Verfügung. Jede zehnte dieser Familien verfügt sogar über mindestens 4.500 Euro. Solange die Eltern zusammenbleiben, haben sie also, statistisch gesehen, nur selten Finanznöte. Alleinerziehende aber sind relativ oft von Armut bedroht.

So lassen sich die neuen Zahlen auch als Indiz für eine breite soziale Schere innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen deuten. Auf der einen Seite stehen die Kinder aus gutsituiertem Haus, die zwischen Klavier- und Ballettstunde pendeln. Auf der anderen Seite wachsen immer mehr Kinder bei Eltern auf, die kaum Geld für eine Kinokarte oder das Hallenbad, geschweige denn für Nachhilfelehrer oder Sprachreisen haben.

Schneider sieht daher auch die Politik in der Pflicht, sich um Auswege zu bemühen. Er wertet die neuen Zahlen als Beleg, wie wichtig der Ausbau der Kinderkrippen sei. Er müsse absoluten Vorrang haben – damit es Eltern überhaupt möglich ist, selbst für ihren Unterhalt aufzukommen.

COSIMA SCHMITT