Verlorene Jugend und Aufruhr mit Musik

POP Wie der Soundtrack zu dem Indie-Folk-Musical, das man schon immer mal sehen wollte – „Politricks“ des Einar Stray Orchestra

Stray dekliniert durch, was heute in der Jugend- und Popkultur als identitäts- und glaubensstiftend gelten kann

VON JENS UTHOFF

Da ist etwas, das wächst. Zunächst war da nur dieser junge norwegische Künstler, der auf den Namen Einar Stray hört. Ein Pianist, Gitarrist, ein toller Sänger, der begann, solo Musik zu machen. Er scharrte weitere Instrumentalisten um sich, mit 21 Jahren veröffentlichte der in Sandvika bei Oslo aufgewachsene Stray vor drei Jahren sein Debütalbum. Die Musiker um ihn herum blieben – aus Einar Stray wurde eine Band: das Einar Stray Orchestra.

Und mit ebendiesem Orchester wächst nun etwas heran, das groß werden könnte. Das eigentlich schon ziemlich groß ist, nur noch nicht so sehr wahrgenommen wird. Und dem man das Orchestrale jederzeit anhört. Überprüfen kann man dies auf dem jüngst erschienenen zweiten Album der nun fünfköpfigen Band, das den Titel „Politricks“ trägt. Es ist beim Berliner Sinnbus-Label erschienen; am heutigen Montag ist diese zeitgemäße Melange aus Kammerpop, Post-Rock und virtuosem Folk im Kreuzberger Privatclub live zu erleben.

„Politricks“ beginnt elegisch und episch. Mit dem erste – und gleichzeitig längsten – Stück „Honey“ könnte man Musikschülern gleich mal mustergültig erklären, wie man Spannung in einem Stück erzeugt; und wie man dabei zugleich eine Geschichte des Heranwachsens erzählt, die mit den Sounds korreliert. Auch hier geht es also wieder ums Wachsen, ums Werden. Und damit auch um Unsicherheit und um Entfremdung.

In den ersten drei Stücken halten die Musiker und Musikerinnen dieses Niveau hoch, auch der Titelsong „Politricks“ und das Folgestück „Pockets Full of Holes“ klingen wie der Soundtrack zu dem Indie-Folk-Musical, das man schon immer mal sehen wollte, das es aber noch nicht gab. Das wäre dann wahrscheinlich eine Art Peter-Pan-Adaption, denn diese Erzählung wird nicht nur zitiert, sondern die Songs handeln auch viel von (verlorener) Jugend und Aufruhr.

Insbesondere die Streicherinnen und Vokalistinnen, Ofelia Østrem Ossum (Cello) und Åsa Ree (Geige), sorgen für erhabene Momente. Wobei die Kompositionen im Gesamten so stimmig sind, dass es unfair wäre, jemanden auszunehmen: Simen Aasens Bassläufe und Lars Fremmerlids Schlagzeugspiel bilden nicht bloß die begleitende Rhythmussektion – auch sie haben ihre Auftritte, auch sie tragen mit nuancenreichem Spiel dazu bei, dass „Politricks“ wurde, was es ist. In der Musik Einar Strays findet man Referenzen an Arcade Fire genauso wie an den Multiinstrumentalisten und Folk-Pop-Barden Sufjan Stevens.

Vom Talent her hätten die Norweger beste Chancen, zukünftig in einer Liga mit diesen nordamerikanischen Indie-(Rock)-Größen zu spielen – dass sie es jetzt noch nicht tun, liegt nur daran, dass das Album das extrem hohe Niveau der ersten Songs nicht ganz halten kann. Wobei die restlichen Stücke, darunter ein A-capella-Song namens „For The Country“, alles andere als schlecht sind, nur schaffen sie nicht mehr den Moment der Überwältigung beim Hörer.

Stray hält „Politricks“ nicht nur wegen des Titels für ein politisches Album; gegenüber einem Radiosender sagte der inzwischen 24-jährige Künstler kürzlich, das Album widme sich thematisch dem Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt – insofern gehe es etwa darum, „seine eigene Haltung zur Welt zu entwickeln“ und herauszufinden, „was man für die Wahrheit hält“.

Stray dekliniert durch, was heute auch in der Jugend- und Popkultur als identitäts- und glaubensstiftend gelten kann, wie etwa im Titelstück, wo es einleitend heißt: „’round your neck hung a crucifix / when you gave in to those politricks / followed them cause you liked the sound / bought their t-shirts and sang along.“ Ein für Stray wesentliches Moment ist das des Zweifels an Lebensentwürfen – thematisch zieht sich dies durch die neun Stücke des Albums. Diese Zweifel in Musik umgesetzt hören sich dabei über weite Strecken verdammt gut an.

■  Einar Stray Orchestra – Politricks (Sinnbus/Rough Trade)

■  Live: 29. September, Privatclub, Kreuzberg, ab 19 Uhr